Tiere und Geschichtsschreibung
Tiere sind in akademischen Debatten derzeit ›en vogue‹, eine Entwicklung, die, wenngleich kritisch, zu begrüßen ist. Die neue Aufmerksamkeit Tieren gegenüber äußert sich in einer Vielzahl von Publikationen genauso wie in zahlreichen Konferenzen, die sich mit dem Thema Tier beschäftigen, und den sich vor allem an angloamerikanischen Hochschulen formierenden Studienangeboten. [1] Auch in der Geschichtswissenschaft werden das Leben der Tiere sowie das Verhältnis zwischen Mensch und Tier als lohnende Forschungsgebiete erachtet. Die historiografische Thematisierung von Tieren ist kein Novum. In der Geschichtsschreibung tauchen Tiere allerdings zumeist als Objekte auf, an deren Beispiel bestimmte menschliche Verhaltensweisen erklärt werden sollen. [2] Tiere dienen als Staffage einer kulturwissenschaftlichen Beschreibung der Moderne. Diese Reduzierung von Tieren zu Statisten menschlicher Geschichte wird seit einigen Jahren hinterfragt. Erica Fudge, eine der frühen Verfechterinnen einer neuen historiographischen Einordnung von Tieren, konstatiert: »Zahlreiche Historiker/innen, die sich mit Tiergeschichte beschäftigen, vertreten einen neuen Standpunkt, der die Abwesenheit des Nichtmenschlichen in der Geschichte angreift. Menschen leben im Nebeneinander mit Tieren. Daher versucht diese neue Subdisziplin zu zeigen, inwieweit das Tier zentral für das ist, was gemeinhin unter menschlicher Geschichte verstanden wird« [3].
Tiere sollen im hier gewählten historischen Zugriff nicht lediglich unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die menschliche Sphäre betrachtet werden. Vielmehr werden das dynamische und interaktive Verhältnis zwischen Mensch und Tier sowie der (aktive) Einfluss von Tieren auf dieses Verhältnis untersucht. Die Geschichtswissenschaft reflektiert damit einen allgemeinen trans- und interdisziplinären Trend, Tiere in menschlichen Kulturen und das Verhältnis von Menschen und Tieren aus veränderter Perspektive zu erforschen [4]. Der Blick soll hierbei hinter die von Projektionen und Symboliken bestimmte Wahrnehmung des Daseins von Tieren gerichtet werden, um zu erörtern, ob und wie es möglich sein könnte, Tiere materiell und diskursiv als etwas anderes zu betrachten als bloße Artefakte, Symbole, Modelle und Waren [5]. Dieser neue Blick auf Tiere materialisiert sich einerseits im Querschnitt verschiedener Disziplinen in Forschungsprojekten, die sich explizit auf das Mensch-Tier-Verhältnis spezialisieren, andererseits innerhalb der etablierten Disziplinen durch das Aufzeigen blinder Flecken in der herkömmlichen Betrachtung der Beziehung zwischen Mensch und Tier.
Mit der kritischen Erforschung der Mensch-Tier-Beziehung ist einerseits – im Sinne einer histoire engagé – die Hoffnung verbunden, für die Wahrnehmung von Tieren als fühlende und leidende Lebewesen zu sensibilisieren, andererseits soll sie zugleich zu einem umfassenderen Verständnis von menschlicher Geschichte und der Dynamik der gegenseitigen Beziehung führen. Der historischen Forschung dürften durch das langjährige Ignorieren der Wechselseitigkeit des Mensch-Tier-Verhältnisses nützliche Analysemittel und Zugänge entgangen sein [6].
Das Infragestellen der anthropozentrischen Verkürzung von Geschichte birgt allerdings ein beträchtliches Konfliktpotential. Der Ansatz der Human-Animal-Studies (HAS) fordert hier einen der hegemonialen Diskurse schlechthin heraus: die Superiorität des Menschen, die in den Geschichtswissenschaften durch den Besitz von Sprache und Schrift untermauert wird. Darüber hinaus bestehen große Unsicherheiten bezüglich des Inhalts und der Ziele des Feldes. Bezeichnend für die Schwierigkeiten, die mit dem Vorhaben, das Leben von Tieren in der Geschichtsschreibung zu berücksichtigen, einhergehen, waren die im Vorfeld zur Veröffentlichung dieser Ausgabe der WERKSTATTGESCHICHTE geführten Diskussionen zwischen den Autor/innen, Redakteur/innen und den Herausgeber/innen des Thementeils. Die Einschätzungen darüber, was eigentlich der Gegenstand einer »Tiergeschichte« ist, wie sie zu schreiben sei und was von ihr erwartet werden könne, differierten deutlich voneinander. Erst im Laufe der Zusammenarbeit wurde klar, wie unterschiedlich die Perspektiven auf das Thema waren und mit welch vielfältigen Grundannahmen sich ihm genähert wurde. Neben der Frage nach adäquaten Begrifflichkeiten, drehte sich die Diskussion immer wieder auch um ein Hinterfragen etablierter Vorstellungen von Tieren sowie darum, welche Wissenschaften adäquate Aussagen über Tiere treffen könnten.
In der akademischen Debatte um die HAS wird einerseits Zweifel geäußert an der grundsätzlichen Möglichkeit, Tiere aus nicht-anthropozentrischer Perspektive zu untersuchen, und andererseits werden die genutzten Analysewerkzeugen kritisiert. Es wird jedoch nicht nur um die Anerkennung in der weiteren Wissenschaftslandschaft kontrovers gestritten. Das gesteigerte Interesse und schnelle Wachstum, das der Zweig derzeit erfährt, bringt auch Kämpfe um die inhaltliche Ausrichtung innerhalb der Disziplin mit sich. Neben Human-Animal Studies konkurrieren Animal Studies, Critical Animal Studies und Anthrozoology um die Definitionshoheit über die Mensch-Tier-Beziehung [7]. Das Feld der HAS ist mithin weder fest umrissen noch solide mit Inhalten gefüllt. Um diesem Defizit entgegenzuwirken, gilt es sowohl zu fragen, welcher Art und wie weitgehend der Einfluss von Tieren auf menschliche Gesellschaften ist, wie dies das Verständnis von menschlichen Gesellschaften beeinflusst, und letztendlich welche methodischen und theoretischen Anforderungen und Folgen diese Fragen nach sich ziehen. Können menschliche Quellen für eine Geschichtsschreibung über Tiere genutzt werden? Wenn ja, wie müssen sie gelesen werden? Welche alternativen Quellen stehen zur Verfügung? Können diese überhaupt hermeneutisch gedeutet oder müssen sie erst doppelt auf ihre Aussagekraft und ideologischen Beschränkungen hin überprüft werden? Und wie lässt sich das Zusammenleben von Mensch und Tier auch theoretisch adäquat fassen [8]? Die Bemühungen stehen auch in diesem Heft noch am Anfang. Es versteht sich deshalb als Werkstatt für den Ansatz der HAS, in der Methodisches mit Blick auf theoretische Deutungskonzepte erprobt wird. Ansätze zu einer Geschichtsschreibung im Sinne der HAS finden dabei beispielhaft Anwendung. Wir hoffen hiermit Anstöße für eine Diskussion zu geben, um die Möglichkeiten und Vorzüge einer solchen Historiographie auszuloten und zu evaluieren.
Die Aufsätze nähern sich der Tiergeschichtsschreibung über das Thema »Tiere in Konfliktsituationen« und machen die Widersprüche im Verhältnis des Menschen zum Tier anhand von Grenzziehungen deutlich. Konkret erörtern sie, welche Relevanz Extremsituationen wie Kriege, koloniale Herrschaftspraxen oder das Leben in Pioniergesellschaften bei der Festlegung und Verschiebung der Grenze zwischen Mensch und Tier hatten, und in welchen historischen Kontexten es zu Spannungen in der Festlegung dieser Grenze kam bzw. sie zementiert wurde. Dem Kernimpuls der HAS entsprechend sind die Fragen, welche materiellen Folgen sich für die Tiere aus ihrer Position ergeben haben und wo die Grenzen der diskursiven und reellen Vereinnahmungsstrategien lagen, sich also eine gewisse Form der Handlungsfähigkeit von Tieren andeutet, für die Beiträge von elementarer Bedeutung.
Vertreten sind dabei zwei theoretische Ansätze, die derzeit in den HAS diskutiert werden: die auf Bruno Latour zurückgehende Akteur-Netzwerk-Theorie und das vor allem an Gilles Deleuze und Félix Guattari angelehnte Konzept des becoming animal. Beide gehen von einer Variabilität, Interpretierbarkeit und teilweisen Nicht-Existenz der Grenze zwischen Mensch und Tier aus. Ersteres analysiert das Verhältnis von Mensch und Natur bei der Erzeugung der Realität als Gemeinschaft gleichberechtigter Partner, die dementsprechend auch gleichermaßen in politischen Konzepten vertreten sein müssten [9]. Letzteres beschreibt das Sein als ein Oszillieren zwischen verschiedenen konkreten Erscheinungsformen – u.a. Tier-Werden – in welche das Subjekt übertritt. Diese jeweiligen Manifestationen des Subjekts befinden sich, laut Deleuze und Guattari, beeinflusst von Begegnungen mit Anderen im ständigen Werden und perforierten so die Grenze zwischen dem Menschen und dem Anderen, hier dem Tier, durch ständiges Überschreiten bis zur Unkenntlichkeit: Das Subjekt ist im ständigen »Werden« begriffen [10].
Die Aufsätze greifen zunächst die Bedeutung des Tieres für die Konstitution menschlicher Gesellschaften auf. Wie Bernhard Gißibl nachweist, lassen sich soziale Strukturen in der Kolonialgesellschaft Ostafrikas vor dem Hintergrund des jeweiligen Verhältnisses zum Tier und dessen körperlicher Verfügbarkeit veranschaulichen. Bei der Untersuchung der Kontaktzonen kolonialer Herrschaftspraxis berücksichtigt er Tiere als dritte Größe, die die Trennung von Kolonisatoren und Kolonisierten bestärken helfen sollten. Ausgehend von den Diskursen und den Praktiken der Domestizierung, der Jagd und des kolonialen Naturschutzes verweist er auf die politische Ökologie der von den Kolonialherren als »Wild« klassifizierten Spezies. Dabei wird das Verhältnis zwischen Mensch und Tier als asymmetrische Machbeziehung gedeutet, die nur durch die Einbindung ökosystemischer Zusammenhänge verstanden werden kann.
In seinem Porträt des Wildbändigers Grizzly Adams schlüsselt Brett Mizelle auf, inwieweit im zeitgenössischen Wildnis-Diskurs positiv oder negativ auf Adams’ becoming animal referiert wurde. Mizelles Analyse der Ausstellungskultur wilder Tiere in den Vereinigten Staaten der 1850er und 1860er Jahre charakterisiert die Bedeutung von Grenzgängern zwischen der tierischen und der menschlichen Welt für die Vermittlung von Wildnis, welche sich nachhaltig in die kulturelle Identität der Amerikaner/innen eingeschrieben habe. Dabei wird auch der Frage nachgegangen, inwiefern ein positiver oder negativer Bezug zur Wildnis Ergebnis der ideologischen Aufladung insbesondere des Grizzly Bärs aber auch anderer Wildtiere ist, welche zur Skizzierung der jeweiligen Grenzziehungen herangezogen werden, und welche konkreten Folgen das Zusammenleben zwischen Wildtier und Mensch hatte, sowohl für den Menschen als auch für das Tier.
Anna-Katharina Wöbse und Mieke Roscher setzen sich mit den Auswirkungen der Kriegshandlungen des Zweiten Weltkrieges auf die Berliner und Londoner Zootiere auseinander und fragen nach der spezifischen Aufladung des Mensch-Tier-Verhältnisses durch diese außergewöhnlichen Rahmenbedingungen. Indem sie auch auf die changierenden Bedeutungen einzelner Spezies in der propagandistischen Nutzung und dem daraus abzuleitenden Handlungsrepertoire eingehen, machen sie auf die Wechselseitigkeit des Agierens aufmerksam. Dabei werfen sie die Frage auf, wie dieses Handeln historisch dargestellt werden kann.
Volker Barth stellt in einem Werkstattbericht zur Entwicklung globaler Nachrichtenagenturen im 19. und 20. Jahrhundert ein neues Forschungsthema der transnationalen Mediengeschichte vor. Indem er die bisherigen Ansätze der Forschung erläutert und Lücken aufzeigt, bereitet er das Feld für die Diskussion jenes Dilemmas von Monopolstellung, transnationaler Glaubwürdigkeit und Objektivitätsanspruch, indem sich Unternehmen wie Reuters, Associated Press oder Wolffs Telegraphisches Bureau wiederfanden.
In ihrem Debattenbeitrag diskutiert Kirsten Rüther fünf aktuelle Werke zur Globalgeschichte. Die Autorin weist auf die Vielfalt der Ansätze und Themen hin, die sich dieser Forschungsrichtung zuordnen lassen. Indem sie zentrale Debatten dieses historiographischen Feldes zusammenfasst, geht sie der Frage nach, inwiefern diese Ansätze einen Paradigmenwechsel in der Geschichtswissenschaft darstellen können.
In der Filmkritik stellt Angelika Nguyen einen von Andrzej Wajdas Klassikern vor. In seinem Film Asche und Diamant aus dem Jahr 1958 über den Tag des Kriegsendes 1945 geht die Freude über das Ende der Kampfhandlungen nahtlos in polnische Brüderkämpfe über. Anhand sehr genauer Sequenz- und Bildanalysen führt die Autorin uns vor Augen, wie kunstvoll und vielsagend in diesem Film das tragisch anmutende Schicksal des Helden mit dem Schicksal seiner Nation verschränkt wird.
Mieke Roscher, André Krebber und die Redaktion
Anmerkungen:
[1] Für den deutschsprachigen Raum vgl. die von Silke Bellanger, Katja Hürlimann und Aline Steinbrecher herausgegebene Nummer »Tiere – eine andere Geschichte« der Zeitschrift Traverse 3 (2008); das von Clemens Wischermann herausgegebene Themenheft »Tiere in der Stadt« der Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009); sowie Dorothee Brantz/Christof Mauch (Hg.), Tierische Geschichte: Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne, Paderborn 2010.
[2] Vgl. Paul Münch, Tiere und Menschen. Ein Thema der historischen Grundlagenforschung, in: Paul Münch/Rainer Walz (Hg.), Tiere und Menschen. Geschichte und Aktualität eines prekären Verhältnisses, Paderborn 1998, S. 9–34, hier S. 14.
[3] Erica Fudge, The History of Animals, H-Animal Discussion Network, http://www.h-net. org/~animal/ruminations_fudge.html, zuletzt besucht am 13.12.2010, unsere Übersetzung M. R. und A. K.
[4] Ebd. Vgl. außerdem: Harriet Ritvo, History and Animal Studies, in: Society & Animals 10 (2002) 4, S. 403–406.
[5] Kenneth J. Shapiro, The State of Human-Animal Studies – Solid, at the Margin!, in: Society & Animals 10 (2002) 4, S. 331–337.
[6] Erica Fudge, A Left-Handed Blow: Writing the History of Animals, in: Nigel Rothfels (Hg.), Representing Animals, Bloomington 2002, S. 3–18, hier S. 15; Aline Steinbrecher, »In der Geschichte ist viel zu wenig von Tieren die Rede« (Elias Canetti) – Die Geschichtswissenschaft und ihre Auseinandersetzung mit den Tieren, in: Carola Otterstedt/Michael Rosenberger (Hg.), Gefährten – Konkurrenten – Verwandte. Die Mensch-Tier-Beziehung im wissenschaftlichen Diskurs, Göttingen 2009, S. 264–287, hier S. 282 f.
[7] Wir bevorzugen die Bezeichnung Human-Animal Studies, da sie unserer Ansicht nach das, was eine kritisch-historische Betrachtung des Mensch-Tier-Verhältnis erfordert und zu leisten vermag, am besten fasst.
[8] Die Debatten um diese Fragen sind im angloamerikanischen Sprachraum bereits bemerkenswert weit gediehen. Siehe: Mieke Roscher, Forschungsbericht Human-Animal-Studies, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte 2 (2009), S. 94–103.
[9] Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, Frankfurt am Main 1998; ders., Das Parlament der Dinge: Für eine politische Ökologie, Frankfurt am Main 2001. Vgl. zur Kritik an Latour v. a. Uta v. Winterfeld, Naturpatriarchen: Geburt und Dilemma der Naturbeherrschung bei geistigen Vätern der Neuzeit, München 2006, S. 365 ff., und Carmen Gransee, Über Hybridproduktionen und Vermittlungen: Relektüren der kritischen Theorie im biotechnischen Zeitalter, in: Gernot Böhme/Alexandra Manzei (Hg.), Kritische Theorie der Technik und der Natur, München 2003, S. 187–197.
[10] Gilles Deleuze/Félix Guattari, A Thousand Plateaus: Capitalism and Schizophrenia, Minneapolis 1987, S. 232 ff.