Editorial: Nr. 49 | gefürchtete geschichte

Wo Bilder von Geschichte zur Grundlage integerer Selbstbilder erklärt werden, wird die Abgrenzung eigener Geschichte von den Geschichten anderer brisant, doch nicht nur das: Dort kann »Geschichte« unsere Selbstbilder auch gefährden. Wie steht es mit der Furcht vor der eigenen Geschichte? Wann und warum beschreiben sich Personen und Kulturen als furchtsam – im Blick auf ihre Vergangenheit und Zukunft wie auch in ihrem Bewusstsein von Historizität? Inwiefern erscheinen Geschichte und Geschichtlichkeit als Bedingung nicht allein der Möglichkeit, sondern auch der Unmöglichkeit von Selbstkonstitution?
Die »neuzeitliche« Geschichte und mit ihr die Geschichtswissenschaft haben sich bisher immer auch als ein Projekt der Furchtbewältigung präsentiert. Dessen Voraussetzung ist eine »Verzeitlichung« der Geschichte seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert, die dem Menschen die handelnde, geschichtsmächtige Gestaltung einer nunmehr offenen Zukunft versprach. [1] In diesem Rahmen etablierte sich »Aufklärung«, indem sie sich als die kritische Überwindung einer Tradition auswies, die in »abergläubischer« Furcht verhaftet gewesen sei: vor Gott und seiner Natur, vor Hölle, Tod und Teufel. Der Anspruch ging mit einer Verlagerung des Furchterregenden in ein »Inneres« einher. Als Voraussetzung politisch-moralischen Handelns erschien nunmehr nicht allein eine »entzauberte« äußere Welt, sondern auch die Furcht vor der Stimme des eigenen Gewissens. Die Debatten um Kulturentstehung, Zivilisierung und Sozialdisziplinierung seit der Wende zum 20. Jahrhundert kreisen um die Frage, ob diese Form der Selbstkontrolle als Fortschritt zu feiern [2] oder aber angesichts dialektischer Folgelasten ihrerseits zu kritisieren sei: angesichts einer historischen Transformation gegenstandsbezogener »Furcht« in eine existentielle »Angst«, die sich in zweierlei Weise ausgebildet habe, zunächst, mit Freud, als »unbehagliches« Schuldgefühl und »Gewissensangst«[3], dann, mit Heidegger, als »Weltangst«: als eine »Angst in der Geschichte«, die »die Angst vor der nicht machbaren Geschichte« ist, [4] die Erfahrung ihrer Unverfügbarkeit und das Bewusstsein historischer Kontingenz, das nach dem Scheitern geschichtsphilosophischer Bewältigungsversuche am Ende des 19. Jahrhunderts einen transzendental obdachlosen Menschen zurückließ. [5]
Sowohl die emphatische als auch die kulturkritische Sicht auf derartige Transformationen legitimieren sich über eine Beseitigung historischer Furcht in einem letztlich als teleologisch begriffenen Prozess der Geschichte. Auseinandersetzungen zwischen religiösen und säkularen Weltauffassungen folgen bis heute dieser Vorgabe: Wer sich als aufgeklärt versteht, unterstellt einer in den eigenen Augen als unaufgeklärt erscheinenden Religion, die Furcht und Angst zu schaffen, die sie zu bekämpfen vorgibt. Religiöse kontern mit einer durch eben diese Religionskritik geschaffenen Furcht: mit der Haltlosigkeit und Ungewissheit einer bindungs- und orientierungslos gewordenen Zukunft. Die Frage, ob Religion Furcht bewältigt oder auslöst, konturiert noch immer modernes Geschichtsbewusstsein und maßgebliche historiographische Debatten. [6] Es ist dieses Geschichtsbewusstsein, in dem sich nach wie vor die »Neuzeit«, seit Renaissance und Reformation, als historische Epoche formiert.
Die »Verzeitlichung« der Geschichte schuf das Paradigma einer Selbsterhaltung, die es dem Menschen erlauben sollte, seine Furcht aus eigener Kraft zu überwinden. Insofern die conservatio sui jedoch nicht allein als Möglichkeit, sondern immer auch als Notwendigkeit entworfen wurde, implizierte sie die Möglichkeit ihres Misslingens. Damit wurde die Möglichkeit einer Furchtbewältigung in historischem Handeln zur Voraussetzung für eine Furcht vor der eigenen Geschichte als Schuldzusammenhang: die Furcht eines personalen wie kollektiven Gewissens, diese Geschichte sei nicht gelungen oder könnte nicht gelingen. In der Folge dieser Schwierigkeit, sich in der Geschichte zu erhalten, entstand das Problem der Selbstbewahrung im Angesicht einer grundlegenden Historizität, wie sie vor allem seit den kulturwissenschaftlichen Debatten um 1900 bis hinein in die Diskussion um eine mögliche (Selbst-) Zerstörung der Geschichtswissenschaft in der »Postmoderne« Thema ist. [7] Seit der Wende zum 20. Jahrhundert kann nicht mehr nur ein Scheitern an einer spezifischen normativen Modellierung beschrieben werden. Wo Normativität als historisch kontingent wahrnehmbar wird, entsteht ein Bewusstsein dafür, dass jede normative Modellierung die Möglichkeit ihres Scheiterns in sich birgt.
Die Temporalisierung der Geschichte schuf das Bild von einer »Neuzeit«, die ausgezogen ist, das Fürchten zu verlernen. Dieses Bild ist in zweierlei Hinsicht zu problematisieren: zum einen im Blick auf frühneuzeitliche Konzepte von Geschichte und Furcht, deren Eigenart im aufklärerischen Paradigma unsichtbar gemacht worden ist, zum anderen mit dem Hinweis auf besondere Implikationen dieses aufklärerischen Geschichtsbegriffs in der Moderne. Wie gestaltet sich, so ist zu fragen, in der »Neuzeit« die Verbindung von Selbstbildern, Geschichtsbildern und Furcht? Konkret: Wie konstituiert sich Subjektivität in der Beschreibung der Furcht vor der eigenen Geschichte, und wie, wenn sich die schreibende Instanz selbst als dasjenige beschreibt, von dem die Bedrohung ausgeht? Hier sind Erwartungen von Endzeit und göttlicher Strafe ebenso angesprochen wie die gesellschaftliche Thematisierung einer belasteten Vergangenheit und Entwürfe negativer Utopie. Darüber hinaus ist der Umgang mit dem eigenen als schuldhaft wahrgenommenen Lebenszusammenhang berührt. Welcher Konnex ist festzustellen zwischen personalen Furchtbeschreibungen und dem Geschichtsbegriff, in dem sich dieser Lebenszusammenhang formierte? Und inwiefern hängen derartige Erzählungen davon ab, ob sich dieses Leben überhaupt als ein spezifischer Zusammenhang begreifen ließ? Schließlich: Wird das Wissen um die eigene Historizität als furchtbesetzt beschrieben: das Wissen um die Notwendigkeit einer beständigen Historisierung und Perspektivierung der eigenen Wahrheit?
Die im Thementeil versammelten Artikel, die nur auf einige dieser Fragen eine Antwort anbieten können, fragen nicht danach, welches Geschichtsbewusstsein Furcht-Gefühle ausgelöst und welches zu deren Bewältigung beigetragen hat; sie sehen, vielmehr, die Verbindung von Furcht- und Geschichtssemantik als integralen Bestandteil gesellschaftlich-kultureller Selbstbeschreibungen. In seiner Analyse autobiographischer Texte aus dem Dreißigjährigen Krieg findet der Herausgeber dieses Heftes eine »unbeschreibliche Furcht«, deren Gegenstand sich formiert im Wissen um das nahende Ende der Geschichte. Wer von dieser Furcht sprach, war nicht in Furcht gefangen vor dem Ende der Zeit, sondern beschrieb ihre heils- und lebensgeschichtliche Überwindung: das Wissen um und die Hoffnung auf eine furchtlose Zukunft in Gott, hier auf Erden wie auch nach ihrem Ende. Mit Martin Schaffners Überlegungen wird der Semantik der Gottesfurcht die diskursive Figur der »Furcht vor dem Volk« im Zeitalter der Revolution an die Seite gestellt. Im 19. Jahrhundert scheint Gott als Subjekt historischen Handelns abgelöst durch das Volk; das Volk wird zum politischen Akteur und neuen Hoffnungsträger, der Geschichte zu machen und die Furcht aus ihr zu vertreiben unternimmt. Ein Volk jedoch, das Furcht bewältigen soll, vermag auch in Furcht zu versetzen. Diese »Furcht vor dem Volk [ist] letztlich Furcht vor Geschichte«, da sich das Volk in einer temporalisierten Geschichtlichkeit konstituiert, deren neue Gestaltbarkeit mit einer neuen Unberechenbarkeit einhergeht. Doch auch hier gilt: Wo Furcht erregt wird, gibt es einen Raum der Hoffnung. Keine »Furcht vor dem Volk«, mithin, ohne ein »Vertrauen in das Volk«. Nach den Erfahrungen mit der »Volks-Gemeinschaft« entstand, wie Frank Biess zeigt, in der Bundesrepublik der 1970er Jahre ein neues Konzept eines angstbesetzten und Angst reflektierenden Subjekts. Dieses Subjekt, im Wissen um die Endlichkeit seines Lebens, beschrieb eine neue Innerlichkeit der Angstgegenstände: die Angst, vor allem, vor eigener Krankheit (die ihrerseits auf unartikulierte Angst zurückgeführt werden konnte) und die Angst vor sich selbst: in der Erinnerung an die nationalsozialistische Vergangenheit, im Bewusstsein des ihm selbst innewohnenden Gewaltpotenzials. Diese Objekte der Angst warfen nicht allein die Frage nach individuellen oder gesellschaftlichen Verantwortlichkeiten auf. Die neuartige Reflexion auf die (eigene) Geschichte stellte auch eine neue Zukunft in Aussicht: neue Formen von »Bewältigung« und »Prävention« – und schuf mit ihnen die Grundlage für neue Angst. »Geschichte«, »Angst« und »Furcht«, dies zeigt auch dieser Beitrag, sind ohne einander nicht zu haben. So wie Furcht als Möglichkeitsbedingung von Geschichte erscheint, ist Geschichte immer auch Bedingung und Gegenstand von Furcht: gefürchtete Geschichte.
Marcus Meyers Werkstattbericht befasst sich am Beispiel der Stadt Bremen mit der Bedeutung der Freimaurerei in der Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts und zeigt, wie in den Freimaurerlogen die kulturhegemonialen Vorstellungen des Protestantismus zu einer identitätsstiftenden Ideologie verdichtet werden konnten. Die Logen trugen auf diese Weise nicht nur zur inneren Festigung des liberalen Flügels des bremischen Bürgertums bei, sondern beeinflussten auch dessen Abgrenzung gegenüber dem pietistischen Bürgertum, der Sozialdemokratie und der seit 1870 auf gesellschaftliche wie politische Partizipation drängenden jüdischen Bevölkerung.
In der Filmkritik geht Nora Helmli der Frage nach, warum 1965 der durchaus gesellschaftskritische DEFA-Film Lots Weib anders als etliche andere »junge«, kritische Filme nach dem Kahlschlag-Plenum des ZK der SED nicht verboten wurde. Immerhin schildert der Film nicht nur die gescheiterte Ehe einer sympathischen Sportlehrerin mit einem spießigen Offizier der Volksarmee, sondern auch die Unzulänglichkeit des herrschenden Scheidungsrechts. Die Autorin zeigt, wie das Ende 1965 beschlossene Familiengesetzbuch der DDR mit seiner im Vergleich zur BRD liberalen Regelung der Scheidung nach dem Zerrüttungsprinzip einem unorthodoxen Film zu Hilfe kam.

Andreas Bähr und die Redaktion

[1] Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 42000, S. 17–37; Niklas Luhmann, Temporalisierung von Komplexität: Zur Semantik neuzeitlicher Zeitbegriffe, in: ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 235–301, hier S. 260–296; Lucian Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a. M. 1999, T. 1.
[2] Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, Frankfurt a. M. 181993, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, S. 181f., Bd. 2: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation, insbes. S. 406ff.
[3] »Die Aufklärung, zu deren Absichten es gehörte, die Menschen von der Furcht zu befreien, hat Angst geschaffen«: Christian Begemann, Furcht und Angst im Prozeß der Aufklärung. Zu Literatur und Bewußtseinsgeschichte des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1987, S. 313.
[4] Heinz Dieter Kittsteiner, Die Angst in der Geschichte und die Re-Personalisierung des Feindes, in: Sabine Eickenrodt/Stephan Porombka/Susanne Scharnowski (Hg.), Übersetzen, Übertragen, Überreden, Würzburg 1999, S. 145–162, hier S. 147 und 152.
[5] Die moderne Begriffstrennung von »Furcht« und »Angst« wurde, wenn auch theologisch orientiert,systematisch erstmals von Søren Kierkegaard ausformuliert.
[6] Dazu: Andreas Bähr, Die Furcht der Frühen Neuzeit. Paradigmen, Hintergründe und Perspektiven einer Kontroverse, in: Historische Anthropologie 16/2 (2008), S. 291–309.
[7] Treffend ist hier der Titel der Überlegungen von Peter Schöttler, Wer hat Angst vor dem »linguistic turn«?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 134–151.