Editorial: Nr. 70 | Rhetorik

Im deutschen Kulturbereich gibt es eine lange Geschichte der rhetorischen Abwertung der Rhetorik als einer oberflächlichen Kunstfertigkeit, die weder Wahrheit noch Tat, weder Genius noch Wesensart verbürge. Gute Redner gab es dennoch. Sie wussten aufgrund der bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts an den humanistischen Schulen gepflegten rhetorischen Ausbildung sehr wohl, wie sie Rede zu gestalten und Wirksamkeit zu entfalten hatten. Otto von Bismarck präsentiert sich aufs Eleganteste mit der antiken Figur der rhetorica contra rhetorica: »Ich bin kein Redner, ein Vorzug, den ich dem Herrn Vorredner bereitwillig einräume. Ich vermag nicht, mit Worten spielend, auf ihr Gefühl zu wirken, um damit Thatsachen zu verdunkeln.« (Bismarck, Politische Reden, Bd. 3, 22f.) Bismarck inszeniert das virulente und ambivalente Rhetorik-Verständnis seiner Zeit, das auch die Vorstellung gelungener Männlichkeit umfasst. Fließen doch einerseits die idealen Züge des antiken vir bonus, des Bürgers der Stadtrepublik, der in gefasster und vernunftgeleiteter Rede das Gemeinwohl der Gemeinschaft zu diskutieren verstand, wie auch das neue nationale Ideal eines Mannes der Tat, der sich von der angelsächsischen und vor allem französischen Kultur der Rede abhebt, in seinen Worten zusammen. In der abendländischen Kulturgeschichte hat sich seit der Antike die Beredsamkeit, die eloquentia, als Ziel und Ausweis der Erziehung der männlichen Eliten erhalten. Ob Aristoteles vor dem Hintergrund der griechischen Städtedemokratien, ob Cicero für das Politikverständnis des römischen Imperiums, ob Kirchenväter oder Reformatoren, ob der uomo universale des Humanismus oder der gentilhomme des 18. Jahrhunderts – die Auseinandersetzung mit den Ideen der Rhetorik reißt nicht ab und führt dazu, dass die Ausbildung zu einer reflektierten und überzeugenden Rede in verschiedenen historischen und politischen Kontexten immer wieder neu formuliert wird. Die Aufklärung interpretiert den Zusammenhang von Rhetorik und Republik, von Analytik und Demokratie. Die Logik der Rhetorik beruht auf der im sprachlichen Austausch gewonnenen Annäherung an vorläufige und interessengeleitete Wahrheiten – mit dieser Grundannahme steht sie absoluten Wahrheiten wie auch Geniekulten und Essentialismen aller Art im Wege. Neben einer analytischen und transparenten Rhetorik entsteht auch eine Rhetorik der Überwältigung, die von der enthusiastischen Rhetorik Friedrich Wilhelm Schlegels mit »rauschhaftem Taumel« und »betörendem Zauber« zur Bezauberung (Novalis) der Spätromantiker und in deren Nachfolge den avantgardistischen Poetiken des 20. Jahrhunderts reicht. Ein nationaler Zweig entwickelt sich zur deutschen Rhetorik und zum deutschen Stil der Kaiserzeit, die gegen den Geist von Analyse und Zersetzung angingen und den Redner mit einer Aureole des Zaubers und der Kräfteausstrahlung ausstatteten, bis hin zur »Zauberkraft des gesprochenen Wortes«, auf der Adolf Hitler seine Rhetorik des Fanatismus und der Enthemmung aufbaute. Heute sind es die geheimen Verführer der Werbung und die Verkaufsschulen für Wirtschaftsleute und PolitikerInnen, die eine rhetorische Praxis beschreiben, die ihre Wirkungsmacht zwar aus der genauen Analyse der Affekte und Wünsche ihres Publikums zieht, die rhetorische Konstruiertheit ihrer Bilderwelten jedoch sorgfältig kaschiert. Rhetorik bedeutet, Rede als Arbeitsprozess und als Produkt, das in seinen Teilen erstellt und nachvollziehbar analysiert werden kann, zu begreifen. Affekten- und Figurenlehre gehören ebenso dazu wie Verfahren zur Darbietung des Stoffes. Darin umfasst Rhetorik nicht nur die Anleitung zur überzeugenden Rede nach bestimmten Regeln, sondern Rhetorik präsentiert sich als die älteste Form der Textkritik, die zugleich Anschlüsse an die modernen Textwissenschaften anbietet. Kontingenz, Diskursivität und Unabgeschlossenheit sowie Machtanalyse und Historizität beschreiben die Kategorien rhetorischer Analyse. Gegenstand der Rhetorik als Textkritik ist das Feld der diskursiven Praktiken in einer Gesellschaft; ihr besonderes Interesse gilt der Freilegung diskursiver Praktiken als Formen der Macht des Handelns. Rhetorische Analyse ermöglicht das Erkennen rhetorischer Fügungen, auch und gerade dort, wo eine Rhetorik der Überwältigung Strategien entwickelt, ihren Konstruktionscharakter auszublenden und Fiktionen von Organischem, Natürlichem oder Authentischem anzubieten. Rhetorik als kritische Diskursanalyse nimmt textspezifische Produktionen von Wissen und Wissenstraditionen wie auch die damit verbundenen Herrschaftsansprüche und die Verfestigung von Diskursen zu Machtpositionen in den Blick. Aus einer solchen Perspektive wendet sich dieses Heft rhetorischen Manifestationen verschiedener Epochen zu. Glenn Ehrstine untersucht das Nürnberger Fastnachtspiel Des Turken Vasnachtspil von Hans Rosenplüt, das zwischen 1454 und 1456 entstand. Er entfaltet die ambivalente Funktion der Figuren des türkischen Sultans und seiner Gesandten. Einerseits verweisen skatologische Beschimpfungen auf xenophobische Traditionsbildungen, die durch die Bedrohung, die von der türkischen Eroberung Konstantinopels im Jahr 1453 ausging, motiviert scheinen. Andererseits dient das Lob der Gesandten auf die Herrschaft des Sultans als Maske für eine Kritik an der Herrschaft von Adel und Kirche. Susanna Burghartz analysiert eine Sammlung von Reiseberichten der Verlegerfamilie de Bry zu Ost- und Westindien, die den rasanten Umbruch der Kolonialgeschichte begleitet hat, der mit dem Aufstieg der Niederlande zur führenden Welthandelsmacht und den Anfängen der englischen Koloniebildung um 1600 verbunden war. Basierend auf dem Konzept des »mimetischen Kapitals« von Steven Greenblatt geht sie dem Prozess der Herstellung von Repräsentationen des Anderen, des Nichteuropäers, nach. Anhand der Analyse von Karten der Neuen Welt und deren Bildlegenden lässt sich nachvollziehen, wie der Gestus der Eroberung und die Legitimation von Herrschaft geographische und ikonographische Verbildlichung erfahren. Dietlind Hüchtker untersucht am Beispiel der zwischen 1899 und 1910 erschienenen Zeitschrift »Przodownica« die politische Sprache der polnischen Frauenbewegung in Galizien. Die »Bäuerinnenpolitik« der Frauenbewegung zeigt, wie sich nationale und feministische (Fortschritts-) Diskurse zu einem Konzept der Politikfähigkeit verbanden und neue Machtverhältnisse konstituierten – auf Kosten ihrer Adressatinnen. Entgegen der in der Forschung bislang angenommenen These, die Frauenbewegung habe ihre feministischen Interessen den nationalen Interessen der Unabhängigkeit des polnischen Staates untergeordnet, kann Hüchtker nachzeichnen, dass diese die nationale Rhetorik genutzt hat, um emanzipatorische Ziele für sich zu formulieren. Gabriele Kämper analysiert die rhetorischen Strategien der Neuen intellektuellen Rechten nach 1989, die um eine starke nationale Identität kreisen. Eine ihrer rhetorischen Hauptstrategien ist die Etablierung von Feindbildern im Inneren der Gesellschaft (die 68er, Feministinnen, multikulturelle Gesellschaft, Postulate von Gleichheit und Gerechtigkeit) mit Hilfe von Sprachbildern, die ideale Geschlechterordnungen und Männlichkeitsimages beschwören. Die Autorin geht anhand geschichtspolitischer Debatten und erfolgreicher Begriffslancierungen der Frage nach, inwieweit prägnante Figuren dieser Rhetorik akzeptierte Positionen in der öffentlichen Selbstverständigung der Nation nach 1989 einnehmen konnten. In der Debatte betrachtet Mehmet Mihri Özdogan die Vorbehalte deutscher Historiker gegenüber einem Beitritt der Türkei zur Europäischen Union. Aus sozialpsychologischer Perspektive befragt er Argumente, die unüberwindbare kulturelle Differenzen zwischen einem jüdisch-christlich geprägten Europa und der islamischen Türkei geltend machen. Für Mihri bedeutet eine in dieser Weise rückwirkende Essentialisierung Europas die Abkehr von europäischen Prinzipien, die die Vielfalt, Historizität und Veränderbarkeit von Gesellschaften, auch im Verhältnis von Religion und Demokratie, betonen. Europaorientierte oder europakritische Aufsätze wie die Beiträge von Glenn Ehrstine und Mehmet Mihri Özdogan sollen auch zukünftig zur Erweiterung des Themenspektrums von WERKSTATTGESCHICHTE beitragen. Keith Allens Werkstattbeitrag über die Musealisierung des Kalten Krieges in den Vereinigten Staaten knüpft kritisch an Überlegungen von Jay Winter zu den Ursprüngen des »Memory-Booms« in WERKSTATTGESCHICHTE Nr. 30 (2001) an. Die museale Gestaltung öffentlicher Erinnerung an militärischen „Originalschauplätzen“ stellt ein umkämpftes Terrain dar, auf dem politische und wissenschaftliche Agenden, persönliche Anliegen von Veteranen und anderen Beteiligten, administrative Vorgaben und lokale wirtschaftliche Interessen aufeinander treffen. Thomas Lindenberger zeigt in der Filmkritik zu »Good-bye-Lenin«, wie in einer filmischen DDR-Scheinwelt, die der Sohn Alex für seine Mutter aufbaut, sowohl zentrale Aspekte der DDR-Geschichte wie insbesondere der entscheidenden Monate zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung abgehandelt werden. Zugleich platziert er den Film in seinen Rezeptionskontext, der durch die hohe Zahl der Besucher nicht zu unterschätzen ist.

Gabriele Kämper, Ulrike Gleixner und die Redaktion