Nr. 83 | sinne | Abstract

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Heiner Fangerau

[ DEUTSCH | ENGLISH | Kurz-Bio]

Krankheitszeichen und Stigma: Die Differenzierung der ärztlichen Sinne in der Diagnostik des 19. Jahrhunderts und ihre sozialen Folgen

Eine Schlüsselrolle nimmt im Kontakt zwischen Ärzt*innen und Patient*innen die Diagnostik, das Erkennen und Benennen von Krankheiten, ein. Im 19. Jahrhundert erfuhr dieser Prozess sowohl in seiner theoretischen Konzeption als auch in der praktischen Durchführung eine zentrale Verschiebung. Die bis dahin geübte Semiotik, die „Zeichenlehre“, die – prognostisch orientiert – vornehmlich „gesund“ und „krank“ voneinander unterscheiden wollte, wurde abgelöst durch die Diagnostik als ein Denken in „Krankheitsbildern“ und Krankheitsklassifikationen. Symptome als sinnliche Sensationen wurden durch die deutende Arbeit des Arztes zu einem spezifischen Krankheitszeichen. Der Beitrag untersucht diesen historischen Wandel der Sinneswahrnehmung in der Diagnostik und fragt danach, wie im ausgehenden 19. Jahrhundert Sinneswahrnehmungen in der medizinischen Diagnostik Körperwissen, soziale Handlungen und symbolische Bedeutung in einem jeweiligen Raum und einer jeweiligen Zeit konstituierten. Es wird argumentiert, dass paradoxer Weise der Wahrheitsanspruch einer angeblich wertfrei mit bestimmten Sinnen und Techniken erhobenen medizinischen Diagnose nicht zur Auflösung krankheitsbezogener stigmatisierender Stereotypien führte, sondern im Gegenteil das Potenzial mit sich brachte, die Diagnose zum festen Urteil mit sozialen Folgen werden zu lassen.

[ ENGLISCH | DEUTSCH]

Signs of Disease and Stigma: The Differentiation of the Medical Senses in Nineteenth-Century Diagnostics and its Social Consequences

Diagnostics – the recognition and naming of diseases – plays a key role in the contact between doctors and patients. In the nineteenth century, the diagnostic process underwent a central shift in both its theoretical conception and its practical implementation. The semiotics practiced until then, the “theory of signs”, which – with a prognostic orientation – primarily wanted to distinguish states of “health” and “sickness”, was replaced by diagnostics as a way of thinking in “disease patterns” and disease classifications. Symptoms as sensations became specific signs of illness through the interpretative work of the doctor. This article examines this historical change in sensory perception in diagnostics and asks how, in the late nineteenth century, sensory perceptions in medical diagnostics constituted body knowledge, social actions, and symbolic meaning in a given space and time. It is argued that, paradoxically, the claim to truth of a value-free medical diagnosis that was accomplished with certain senses and techniques did not lead to the dissolution of disease-related stigmatizing stereotypes, but on the contrary had the potential to turn diagnosis into an ineluctable verdict with social consequences.

Kurz-Bio: Heiner Fangerau

Heiner Fangerau ist Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Geschichte der medizinischen Diagnostik, der Neurologie- und Psychiatriegeschichte und der Geschichte des medizinischen Kinderschutzes sowie der historischen Netzwerkanalyse.

E-Mail: heiner.fangerau@uni-duesseldorf.de

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