Das 20. Jahrhundert – Zeitalter der technischen Machbarkeit, die Menschheit machte sich auf ins Weltall. Mit weltweiter Anteilnahme startete die Rakete Apollo 11 am 16. Juli 1969 und nahm Kurs auf den Mond. Am Abend des 20. Juli 1969 landete zum ersten Mal eine bemannte Fähre auf dem Erdtrabanten nahe des Mare Tranquillitatis. Große Worte und Bilder gingen um die Welt.
Das erste Foto von der Mondoberfläche blieb jedoch weitgehend unbekannt und wurde später kaum publiziert. Es zeigt die Stützen der Mondlandefähre mit ihrem imposanten Schattenwurf auf der kargen unberührten Mondoberfläche und – einen Müllsack.[1] Noch bevor Neil Armstrong seinen berühmten kleinen Schritt[2] auf den Mond tat und sein erstes Foto schoss, warf er vom oberen Absatz der Landefähre einen Beutel mit Abfall in den Mondstaub.
Heute liegen auf dem Erdtrabanten rund hundert Tonnen Altmetall und -plastik.[3] Müll ist ein Menschheitsbegleiter. Nach Ansicht des amerikanischen Archäologen und Anthropologen William Rathje ist »die Erzeugung von Müll ein untrügliches Zeichen für die Anwesenheit von Menschen.«[4] Dabei ist dieses anthropogene Gemenge in der Regel ebenso zentral wie merkwürdig unsichtbar – wie das oben genannte Beispiel wunderbar illustriert. Abfall ist ein Stoff, der vor allem dann sichtbar wird, wenn es zu Problemen kommt. In der Lebenswelt der Menschen existiert meist ein quasi verborgenes Netz, ein Räderwerk, welches sich um die Hinterlassenschaften kümmert. Quillt die Tonne über, streiken die Müllwerker oder sterben die Fische im Fluss, rückt das allgegenwärtige Nichtgesehene plötzlich in das gesellschaftliche Bewusstsein. Dabei bedarf es einer Kraftanstrengung sondergleichen, um die vielfältigen Arten des global anfallenden Abfalls unserer modernen Konsumgesellschaft[5] zu »entsorgen« oder auch nur den Versuch dazu zu unternehmen. Sich auf die historischen Spuren solcher Entsorgungspfade zu begeben, erweist sich als überaus interessant – auch im Hinblick auf das Selbstverständnis der jeweiligen Gesellschaft. Die Beschäftigung mit den Stoffen, die Menschen aussonderten, verspricht wichtige Erkenntnisse im Hinblick auf die Verfasstheit und das Eigenbild der Gesellschaft sowie das Verhältnis von Gesellschaft und Umwelt. Zu fragen wäre, welche Stoffe jeweils als Abfälle an welcher Stelle anfielen, welche Praktiken, Ideen, Sichtweisen und Maßnahmen damit verbunden waren und welche gesellschaftlichen Regelungen dafür geschaffen wurden bzw. welche Probleme sich für das Zusammenleben daraus ergaben. Spätestens seit dem 20. Jahrhundert lohnt sich eine transnationale Perspektive, da der Ort der Herstellung von Dingen, bei der in der Regel erheblicher Abfall anfällt, der Ort des Konsums und schließlich der Ort des Abfallverbleibes zum Teil erheblich auseinanderlagen. Lange ist dieses vielversprechende Kapitel in der Geschichtswissenschaft zumeist ignoriert worden.
Mit dem WerkstattGeschichte-Heft zum Thema Müll möchten wir Lücken in der deutschen Müllforschung aufzeigen und in bester Geschichtswerkstatt-Tradition dorthin schauen, wo es weh tut. In diesem Heft werden einige wichtige Themen aufgegriffen, die bisher entweder wenig erforscht wurden, wie die Bereiche Müllkolonialismus, Giftmüll, Militärmüll und Mikroplastik, oder aber – wie der Beitrag zu Recycling und dessen Wahrnehmung zeigt – in ihrer Dimension nicht hinreichend berücksichtigt wurden.
Seit einigen Jahren nehmen sich Wissenschaftler*innen mit großem Gewinn der Geschichte des Mülls an und greifen die unangenehmen Hinterlassenschaften auf. Die bisherigen Veröffentlichungen beschäftigen sich allerdings vor allem mit dem – zugegeben wichtigen – Thema Hausmüll, dessen Entstehung und Entsorgung sowie den damit verbundenen Praktiken. Als Ergebnis dieser Forschungen lässt sich feststellen, dass die in den 1960er bis 1980er Jahren befürchtete gigantische Müll-Lawine, die anhand der damaligen Hochrechnungen des täglichen Müllaufkommens prognostiziert worden war, nicht entstand.[6] Auch hat sich der Umgang mit den Hinterlassenschaften enorm gewandelt und verschob sich von der Deponierung im Wesentlichen hin zur »thermischen Verwertung« (ein Euphemismus aus dem deutschen »Entsorgungs«-Wortschatz, der Verbrennen bedeutet). Zumindest in Bezug auf den Hausmüll breitete sich ein zunehmendes Problem- wie auch Umweltbewusstsein bei Verbraucher*innen wie auch Regierenden aus, das sich sowohl in der Abfallrahmengesetzgebung als auch in diversen sonstigen Maßnahmen niederschlug. Lösungen, echte wie vermeintliche, wurden auf den Weg gebracht – hier sei als Beispiel das Duale System genannt. Wiederverwertung und Recycling erlebten eine neue Blüte und etablierten sich auch jenseits der Nische um vermeintliche Ökohippies als neues ideelles Selbstverständnis in der Mitte der Gesellschaft.
Diese Sichtweise wird dem Thema allerdings nur teilweise gerecht. Angesichts der Brisanz – in den Weltmeeren dümpelt der Plastikmüll und die Umwelt wird zunehmend toxischer – muss genauer hingeschaut werden. Was ist Müll? Zunächst eine Frage des Standpunktes und der Sichtweise: »Müll ist Materie am falschen Ort«[7], fasste die Kultursoziologin Mary Douglas zusammen. Diese einsichtige und charmante Auffassung verführt uns allzu leicht, die Lösung des Problems in einem »richtigen Ort« zu suchen. »Müll ist Rohstoff auf Abwegen« – diese Einstellung verlockt gar zu einer neuen Goldgräberstimmung. Müll an sich ist so alt wie die Menschheit, doch mit neuen technischen Möglichkeiten hielten neue Probleme Einzug: neue persistente Stoffe wie Plastik und auch neue Giftstoffe. Und spätestens damit irritiert die Vorstellung von der »Materie am falschen Ort«, denn wo läge der »richtige Ort« für Chemieabfall, radioaktiven Müll, giftige Luft-Emissionen sowie Unmengen von Plastikverpackungen?
Dies ist der Punkt, an dem bisherige Forschungen oft zu kurz greifen: Müll ist eben nicht nur Hausmüll. So hinterlassen etwa Produkte im Herstellungsprozess Abfallstoffe, schon bevor diese überhaupt in Gebrauch genommen werden. Bei der Produktion von Dingen fällt der größere Teil von Müll an.[8] Seit Ende des 18. Jahrhunderts entstanden in der industrialisierten Wirtschaft erhebliche Abfälle und Verunreinigungen. Industriemüll unterschied sich nicht nur in der Menge von Hausmüll, sondern auch in der potenziellen Toxizität für Mensch und Umwelt. Ferner wäre hier auch die Erzeugung von Energie sowie Rohstoffen zuzurechnen, also Fragen von Abfall oder Abraum im Bergbau, Abfälle aus der Verhüttung, der Energiegewinnung und darüber hinaus auch die Verschmutzung von Luft und Wasser. Hier liegen noch große Forschungsfelder. Interessant wäre in dem Zusammenhang auch der Blick in die vorindustrielle Gesellschaft – welcher Müll fiel hier an, welche Praktiken und Probleme ergaben sich daraus für die Gesellschaft? Neben dem Haus- und Produktionsmüll entstanden noch weitere Abfallarten – so sei hier als ein Beispiel auf den Beitrag über die militärischen Hinterlassenschaften in diesem Heft verwiesen.
In der zeitgeschichtlichen Forschung besteht ebenfalls noch großer Bedarf, den Abfall jenseits des Hausmülls zu untersuchen. Erstaunlicherweise sind historische Abhandlungen zu toxischen Stoffen generell, aber auch solche zu den großen Giftmüllskandalen kaum zu finden. Und – damit verbunden – wäre eine genauere Erforschung der Geschichte der Umweltbewegungen sehr zu begrüßen. Des Weiteren ist der verbreitete Tenor der deutschsprachigen Forschung »jetzt ist alles geregelt und es wird ja auch sehr viel recycelt«[9] nicht nachvollziehbar, wie Heike Weber in ihrem Text darlegt. Beim Thema Müll sind die Deutschen offenbar ebenso erfolgreich in der Verleugnung von Problemen wie beim Export von diesen.[10]
Das Verschwindenlassen von Problemmüll über Ländergrenzen – gerne Mülltourismus genannt – hat eine lange Tradition. Eine besondere Rolle spielte in der deutschen Geschichte sicher die »Entsorgung« bundesdeutscher Problemabfälle über die deutsch-deutsche Grenze. Die DDR-Regierung verklappte den Abfall des anderen deutschen Staates gegen Devisen in großem Stil, z. B. in der immer noch umstrittenen Deponie Schönberg.[11] Mittlerweile wird der Abfall lieber auf Fernreise geschickt – bis 2018 spielte China eine große Rolle als globale Müllkippe für deutsche Hinterlassenschaften, inzwischen haben andere Länder – wie Malaysia – diese Rolle übernommen.[12] Deutscher Müll findet sich weltweit von Kuala Lumpur bis zur Antarktis. Angesichts der ungleichen Struktur der Transaktionen erscheint es korrekter, statt von Tourismus von Müllkolonialismus zu sprechen.
Die Beiträge in diesem Heft greifen einige der genannten Problemfelder und Forschungsfragen auf. Heike Weber thematisiert die Grenzen von Recycling sowie die Technologiegläubigkeit von Bürger*innen und Politiker*innen seit Ende des 19. Jahrhunderts. Für drei historische Phasen – die Stadt um 1900, das NS-Regime und die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg – untersucht sie, wie die Kreislauf-Metapher bereits in früheren Zeiten dazu diente, mehr Abfallrecycling zu fordern oder zu verwirklichen. Mit der Kreislauf-Metapher war und ist noch immer die Hoffnung verbunden, das Abfallproblem technisch lösen zu können, ohne die Produktions- und Konsumstrukturen der Gesellschaft verändern zu müssen. Weber zeigt, wie die Metapher im gesamten Zeitraum wider besseres naturwissenschaftliches und technisch-ökonomisches Wissen nichts von ihrer Wirkmächtigkeit eingebüßt hat.
Den Komplex giftiger Chemiemüll, Müllkolonialismus und Umweltbewegungen greift Jonas Stuck auf, der in seinem Aufsatz eine spektakuläre »return to sender«-Aktion untersucht, in der Aktivist*innen 1988 deutschen Giftmüll aus der Türkei zurückholten. Der illegale Sondermüll-Export aus Baden-Württemberg hatte zu Diskussionen um den westdeutschen Müllkolonialismus und zu heftigen Protesten im Sender- wie auch im Empfängerland geführt. Bei der Rückholaktion handelte es sich um eine der ersten erfolgreichen Kampagnen, die westdeutsche Umweltlasten zurück in den eigenen Verantwortungsbereich führten und die Politik mit konkreten Problemen einer unzureichenden Müllentsorgung konfrontierten.
Sven Bergmann und Philipp Grassel schließlich gehen der Verschmutzung von Nord- und Ostsee durch Plastik und Munition nach. Sie klassifizieren diese Art der Umweltverschmutzung als »langsame Gewalt« und zeigen die Ähnlichkeiten der beiden Arten von Meeresmüll auf. Trotz aller Parallelen werden beide in der Öffentlichkeit unterschiedlich problematisiert. Die Existenz von Munitionsmüll ist seit Jahrzehnten bekannt, wird aber kaum öffentlich diskutiert. Plastikmüll hingegen erfährt eine große öffentliche Diskussion, die als Frage von Konsumentscheidungen und nicht der Produktionsweise moralisch aufgeladen und individualisiert ist. Die Autoren sprechen hier von unterschiedlichen Abfall-Regimen.
Isabel Raabe und André Raatzsch berichten im Interview aus der Entstehungsgeschichte und Arbeit des RomArchive, das im Jahr 2019 online gegangen ist. Dabei reflektieren sie die wissenschaftlichen, politischen und partizipativen Ansprüche des Archivs, das sich nicht zuletzt als emanzipativer Ort der Selbstrepräsentation von Sinti und Roma versteht. Zugleich diskutieren sie die eigene Rolle in postkolonialen Debatten sowie die Chancen und Herausforderungen eines Archivs, das in Bewegung bleiben und vielfältige Ansätze der gemeinsamen Auseinandersetzung mit Geschichte(n) und historischem Quellenmaterial bieten will.
In der Rubrik Dingfest geht es um Klebeband bzw. »Paketband«, mit dem ein Paar Arbeitshandschuhe gebrauchstüchtig gehalten wurde. Der Besitzer der Handschuhe hatte diese dem Museum der Alltagskultur im Schloss Waldenbuch übergeben, wo sie ihre »verdiente Ruhe haben« sollten. Markus Speidel diskutiert die Bedeutung des Klebebands für die Museumsarbeit und für das Verständnis über den Umgang mit alltäglichen Dingen. Das Klebeband, so Speidel, verdecke nicht den Blick auf das eigentliche Objekt, es eröffne vielmehr Einblicke in Gebrauchszusammenhänge sowie in Mensch-Objekt-Beziehungen und werde so zum Schlüssel für das Objektverständnis.
Ulrike Weckel geht in der Filmkritik ihrem Eindruck nach, dass zwar viele Spielfilme Gewalt glorifizieren, aber wenige die Todesstrafe. Dagegen gibt es zahlreiche Filme, darunter etliche amerikanische Blockbuster, die die Todesstrafe kritisieren oder zumindest im Publikum Zweifel wecken, ob die im eigenen Land immer noch praktizierten Hinrichtungen nicht besser abgeschafft gehörten. Eignen sich filmische Mittel dafür womöglich besonders gut? Im Zentrum der Filmkritik steht I Want to Live! aus dem Jahr 1958. Dem Film liegt der historische Fall von Barbara Graham zugrunde, die 1955 von einem kalifornischen Gericht des gemeinschaftlichen Mordes für schuldig befunden und in der Gaskammer von San Quentin hingerichtet wurde. Analysiert werden die Narratologie des Films, die Bildsprache sowie zeitgenössische Filmkritiken aus den USA und der Bundesrepublik, wo Todesstrafe und Gaskammer damals andere Assoziationen weckten.
François Guesnet besuchte für die Expokritik die im August 2020 neu eröffnete Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin. Er fragt nach den Narrativen, die die komplexe Geschichte der Juden und Jüdinnen näherbringen sollen, sowie nach der Einbettung der jüdischen Geschichte in die größeren historischen Kontexte.
Wiebke Kolbe, Monika Sigmund und die Redaktion
[1] »109:30:53 First EVA picture. Neil’s first frame in a pan taken west of the ladder. Jettison bag under the Descent Stage, south footpad, bent probe, strut supports. The view is more or less up-Sun, so we are seeing the shadowed faces of boulders. 20 July 1969.«, http://www.hq.nasa.gov/alsj/a11/images11.html#5850 (letzter Zugriff 31.10.2021).
[2] Berühmt wurde Armstrongs Satz »That’s one small step for a man, one giant leap for mankind.«, http://www.nasa.gov/mission_pages/apollo/apollo11_audio.html (letzter Zugriff 31.10.2021). Zu der Frage, ob Armstrong »a man« oder nur »man« sagte, siehe http://www.hq.nasa.gov/alsj/a11/a11.step.html (letzter Zugriff 31.10.2021).
[3] Philip Bethge, Space-Archäologie – Mission Mondmüll, http://www.spiegel.de/einestages/space-archaeologie-a-948765.html (letzter Zugriff 31.10.2021).
[4] William Rathje/Gullen Murphy, Müll. Eine archäologische Reise durch die Welt des Abfalls, München 1994, S. 17.
[5] Ein Kleidungsstück beispielsweise, welches in Europa verkauft wurde oder wird, hat in der Regel bereits in den Produzentenländern, etwa in Asien, Gewässer verunreinigt und anderen Müll erzeugt. In einigen Fällen ist diese Bekleidung sogar die Ursache für die Verschmutzung abgelegenster Orte mit per- oder polyfluorierten Chemikalien. Vgl. Greenpeace, Schmutzige Wäsche. Die Belastung chinesischer Flüsse durch Chemikalien aus der Textilindustrie, Hamburg 2014; dies., Chemie in unberührter Natur. Greenpeace untersucht die globale Verbreitung gefährlicher per- und polyfluorierter Chemikalien, Hamburg 2015; dies., Leaving Traces. The Hidden Hazardous Chemicals in Outdoor Gear, Hamburg 2016.
[6] Vgl. u.a. Roman Köster, Hausmüll. Abfall und Gesellschaft in Westdeutschland 1945–1990, Göttingen 2016.
[7] Mary Douglas, Purity and Danger. An Analysis of Concepts of Pollution and Taboo, London 1984 [1966], S. 36.
[8] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/2864/umfrage/abfallaufkommen-in-deutschland-seit-2000/ (letzter Zugriff 1.11.2021).
[9] Jüngstes Beispiel ist das Themenheft »Müll«, Aus Politik & Zeitgeschichte, 68 (2018) 49/50.
[10] Die Deutschen erzeugten 2010 pro Person am Tag 0,49 kg Plastikmüll – dies schafften selbst die USA nicht (0,34 kg/Person pro Tag). Mehr erzeugte nur Guyana mit 0,59 kg/Person pro Tag. https://ourworldindata.org/plastic-pollution (letzter Zugriff 1.11.2021).
[11] Vgl. Matthias Baerens/Ulrich von Arnswald, Die Müll-Connection. Entsorger und ihre Geschäfte, München 1993.
[12] Greenpeace, The Recycling Myth – Malaysia and the Broken Global Recycling System, Kuala Lumpur 2018.