Nr. 87 | reizende gerüche | Abstract

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Benjamin Brendel

[ DEUTSCH | ENGLISH | Kurz-Bio]

Geruch im Verzug? Ein chemischer Gefahrendiskurs zwischen Wissen, Emotion und Genderzuschreibung am Fall des Unternehmens Merck in Darmstadt um 1980

Der Geruch von Chemiewerken gab der eher abstrakten, medial kommunizierten Diskussion um Industrieemissionen, Altlasten, Pestizide und Dioxin vom Ende der 1970er- bis zur Mitte der 1980er-Jahre einen konkreten, alltäglichen Bezugspunkt. Gerüche der Produktion des Chemieunternehmens Merck in Darmstadt und damit verbundene Emotionen der Anwohner, wie Angst vor einer Gesundheitsgefahr, gaben dem Protest ein essenzielles lokales Moment und Wirkmächtigkeit. Emotion und Geruch wurden dabei zum Argument eines Gegenwissens, dass Deutungshoheiten, (männliche) Expertenrollen und damit die gesellschaftliche Machtverteilung herausforderte. Umgekehrt sprachen Experten mit dem Verweis auf Emotion, Glaube und oft auch das weibliche Geschlecht Kritisierenden die rationale Basis ihrer Argumente ab. Der (Geruchs-)Protest war insofern erfolgreich, als dass er eine vormalige Expertendiskussion aus dem Hinterzimmer in die Öffentlichkeit verlagerte, etablierte Wissens- und Kontrollsysteme hinterfragte und hohen politischen Druck aufbaute. Eine grundlegende Kursänderung in Bezug auf die chemische Produktion und die Pestizidfrage erfolgte aber, wohl auch durch die Fokusverschiebung der Umweltbewegungen nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl 1986, nicht.

[ ENGLISCH | DEUTSCH]

Hazardous Odors? The Discourse on Chemical Dangers Between Knowledge, Emotion, and Gender Attributions in the Case of the Merck Works in Darmstadt Around 1980

Smells issuing from chemical production gave a focal point to the abstract terms in which the public and the media discussed questions of emissions, contaminated sites, pesticides, and dioxin – all burning issues in Germany between the late 1970s and the mid-1980s. Residents of the city of Darmstadt who lived close to a chemical plant belonging to the local Merck corporation reacted emotionally to the odors it gave off, fearing health risks. These odors and the criticism they provoked gave the wider protest a local momentum and potency. The link between emotion and smell became, on the one hand, an argument of counter-knowledge, one that challenged established sovereignty over interpretation, (male) expert roles and social power distribution. On the other hand, experts questioned the rational character of critique with reference to emotions, faith, or femininity. Yet the protest was at least partly successful. It transformed a backroom discussion of experts into public, it challenged established systems of knowledge and control successfully, and it raised political pressure. A fundamental change in chemical production or the question of pesticides, however, did not occur. A contributing factor to this failure may have been that the Chernobyl disaster of 1986 diverted the focus of environmental movements elsewhere.

Kurz-Bio: Benjamin Brendel

Benjamin Brendel ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Neueste Geschichte an der Philipps-Universität Marburg. Zurzeit arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zur Geschichte der divergierenden Pestizidwahrnehmungen in Deutschland von ca. 1880 bis zu den 1990er Jahren. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte der Sicherheit, der Umwelt und der Infrastruktur aus politik-, kultur- und globalgeschichtlicher Perspektive im 19. und 20. Jahrhundert mit besonderem Fokus auf Deutschland, die USA, Spanien und Ägypten.
E-Mail: benjamin.brendel@uni-marburg.de

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