Editorial: Nr. 81 | steine

»Channeling, a New England granite quarry«, ca. 1908, Library of Congress, Washington, DC, Prints and Photographs Division, Detroit Publishing Company Photograph Collection [LC-D4-70403 (P&P)]
»A rose is a rose is a rose is a rose.« (Gertrude Stein)

Am Beispiel einer der berühmtesten Gedichtzeilen von Gertrude Stein erläutert der Kulturwissenschaftler Stuart Hall die verschiedenen Bedeutungsebenen von Repräsentation. Auf jeder dieser Ebenen, sei es die der Nachahmung, Vertretung oder Wirklichkeitskonstruktion, bleibt eine Rose eine Rose, und zwar auch dann, wenn – wie in Gertrude Steins Gedicht – »Rose« der Name einer Person ist.[1] Wie ist es aber mit Steinen? Auch Steine bleiben Steine, doch durch Verwendungs- und Bearbeitungsweisen verändern sie ihre Bedeutung oder auch ihren materiellen Wert.

Ausgangspunkt für die Idee, bei WerkstattGeschichte ein Heft zum Thema »Steine« herauszugeben, war unser Interesse an Verbindungen von Ansätzen der Material Culture Studies mit sozial-, politik-, kultur- und wissensgeschichtlichen Forschungsperspektiven. Besonders reizvoll fanden wir es, zu diesem Zweck ein Material auszuwählen, das im Allgemeinen vor allem mit Dauerhaftigkeit in Verbindung gebracht wird. Nicht zuletzt ihre Beständigkeit macht Steine zu etwas Symbolhaften, beispielsweise dann, wenn sie als Material zur Errichtung von Denkmälern, Grabsteinen und repräsentativen Bauwerken benutzt werden, die »lange Bestand haben sollen«.[2] Dass – eher unerwartet – auch Straßenbelag aus Pflastersteinen zu einem solchen Symbol werden kann, verdeutlicht dieses Heft.

Im Vergleich zur großen Dauerhaftigkeit von Stein schrumpft die menschliche Zeitlichkeit radikal.[3] Gerade angesichts dieser »radikale[n] Kluft zwischen der Zeit der Steine und der Zeit der Menschen«[4] erschien es uns interessant, dem transformativen Potenzial dieses Materials aus verschiedenen Perspektiven über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg nachzuspüren. Das Material Stein erwies sich bei unserer Suche nach Aneignungsformen und -praxen in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen als überaus wandelbar und damit als ausgesprochen ergiebig. Denn obwohl Steine als »Garant des Dauerhaften«[5] gelten, sind sie zugleich immer wieder grundlegenden Veränderungen unterworfen, die nicht zuletzt mit unterschiedlichen menschlichen Gebrauchsweisen und damit verbundenen sozialen Dynamiken sowie Denk- und Deutungsmustern in Zusammenhang stehen. So nehmen Benjamin Bühler und Stefan Rieger in ihrer Auseinandersetzung mit der »Ordnung der Dinge« – mit Fokus auf Tiere (Bestiarium), Pflanzen (Florilegium), Artefakte (Machinarium) und schließlich Steine (Lapidarium) – die damit in Beziehung stehende Etablierung von Wissensordnungen in den Blick.[6] Leitend für ihre Untersuchung von Steinen ist den beiden Autoren die Auseinandersetzung mit den in der wissenschaftlichen Forschung im Laufe der Jahrhunderte etablierten naturwissenschaftlichen Ordnungssystemen, der Evolutionstheorie und den Ordnungsvorstellungen der Humanwissenschaften, darunter der Historiografie, die die menschliche Zeit im 19. Jahrhundert in Anlehnung an zentrale Erkenntnisse der Geologie als Schichtung zeitlicher Perioden zu beschreiben beginnt. Ähnliches gilt für die Psychologie, die verschiedene Schichten des Bewusstseins »in das Innere des Menschen [verlagert] und […] solchermaßen die geologische Zeit in den Körper ein[schreibt]«.[7] In Bezug auf Steine und deren Sortierung in Ordnungssysteme verweisen Bühler und Rieger in ihrer Einleitung auf den österreichischen Schriftsteller Adalbert Stifter und dessen Erzählsammlung Bunte Steine.[8] Stifter unterscheidet darin drei Bedeutungen von Steinen, nämlich als Gebrauchsobjekt, ästhetisches Objekt und wissenschaftliches Objekt. Dass diese drei Semantiken nicht immer voneinander getrennt werden können, sondern mitunter eng miteinander verschränkt sind, ist ein Befund dieser Ausgabe von WerkstattGeschichte.

Die Autor*innen des Heftes fokussieren indes nicht allein auf die Frage, wie Menschen durch die Arbeit mit und an Steinen Ordnungen und, verbunden damit, Differenzen herstellen, sondern auch, wie sie diese in Frage stellen bzw. Unordnung erschaffen. Inwiefern lassen sich hierbei Verbindungen zu umkämpften gesellschaftlichen Ein- und Ausschlüssen und Aushandlungen von sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen ausmachen?

Zur Beantwortung dieser Frage werden verschiedene soziale Praktiken mit und am Material in den Blick genommen. Inwiefern und mit welchem Effekt veränderte sich durch diese Praktiken nicht allein die Form bzw. die Formation, sondern auch die Bedeutung von Steinen? Innerhalb welcher Wissens- und Machtformationen sind diese Bedeutungswandel zu verorten? Und inwiefern lassen solche Bedeutungswandel Rückschlüsse auf Erschütterungen und Transformationen dieser Ordnungen zu? In der Bearbeitung dieser Fragen fällt auf, dass in den Beiträgen Kategorien wie race, class und Religion mehr oder weniger explizit genannt werden, während die Kategorie gender immer präsent und auch sichtbar ist, jedoch nicht als analytische Kategorie.

Sebastian Felten interessiert sich in seinem Beitrag über Bergbau im sächsischen Freiberg im 18. Jahrhundert weniger für die Steine selbst als vielmehr für die Arbeit am Stein. Er arbeitet heraus, dass die Obrigkeit angesichts der Erschöpfung an der Oberfläche liegender und damit leicht erreichbarer Erzadern einen Bedarf nach einer effizienteren Ausbeutung bei aufwändiger werdenden Abbaubedingungen ausmachte. Vor diesem Hintergrund wurde aus dem praktischen Wissen der Bergarbeiter eine Wissenschaft der Bergarbeit. Gelehrte brachten die Arbeit der Bergarbeiter am Gestein in ein System und transformierten es zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Sie stellten damit nicht nur eine Hierarchie zwischen Hand- und Kopfarbeit, zwischen praktischem und theoretischem Wissen her. Ein Ziel dieser Systematisierung war es auch, Arbeitszeit und Arbeitsleistung der Bergarbeiter zu kontrollieren, zu regulieren und effizienter zu gestalten. Felten arbeitet zugleich heraus, dass die Bergarbeiter diesen Versuchen mit unterschiedlichen Widerstandspraktiken zu begegnen suchten.

Welche Bedeutungen Steine in politischen Konflikten annehmen können, zeigt Kathrin Rottmann in ihrem Beitrag am Beispiel der revolutionären Aneignung des Pflastersteins in Frankreich und anderen europäischen Ländern im 19. Jahrhundert sowie deren »Nachbeben« in den Aktionen der Studentenbewegung von 1968 und in der anschließenden Überführung von Pflastersteinen in den Kunstkontext. Die gepflasterten Straßen von Paris versinnbildlichten um 1800 die königliche Macht, die auf Schönheit wie auf Ewigkeit baute. Indem die Revolutionäre von 1830 die Pflastersteine aus dem Straßenbelag herausrissen und zu Barrikaden auftürmten, machten sie die »Straßen des Königs« unpassierbar. Die königliche Ordnung, symbolisiert durch die geordnet verlegten Pflastersteine, wurde »aufgebrochen«, die Steine wurden zur Waffe im politischen Widerstandskampf gegen die Obrigkeit und später zum Symbol des Kampfes einer unterlegenen Minderheit gegen die übermächtige Mehrheit. Vor diesem Hintergrund gerinnt die nachfolgende Überführung der revolutionär aufgeladenen Pflastersteine in den Kunstkontext und ihre damit verbundene »Stillstellung« fast schon zur Ironie.

Während Kathrin Rottmann dem revolutionären Potenzial des Pflastersteins nachspürt, stellt Regina Sarreiter in ihrem Beitrag die Frage, wie Steine, indem sie in eine bestimme Ordnung gebracht werden, soziale Herrschaftsverhältnisse legitimieren. Im kolonialen Südafrika ordneten christliche Missionare aus Europa in den 1920er Jahren Menschen afrikanischer Herkunft mittels vor Ort gefundener Steinwerkzeuge in ein universalistisches christliches Narrativ der Menschheitsgeschichte ein. Vertretern der noch jungen südafrikanischen Archäologie und Ethnologie wiederum dienten diese Artefakte dazu, die kolonisierte afrikanische Bevölkerung in die Vergangenheit zu verweisen und zugleich am unteren Ende einer kolonialrassistischen Hierarchie zu verorten. In Museen im heutigen Post-Apartheid-Südafrika treten die steinernen Artefakte, verstanden als rock art, wiederum als Zeugen menschlicher Kreativität und Technologie in Erscheinung, die sich auf dem afrikanischen Kontinent weitaus früher als in anderen Weltregionen entfalteten.

Bühler und Rieger stellen fest, dass »Steine als Objekte und Akteure Dynamiken und Vernetzungen von Wissen erzeugen«.[9] Sie tun dies aber nicht von allein. Im Zusammenspiel von Material und Mensch lassen sich unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse und Differenzierungsweisen aufzeigen, die entweder mit und durch Steine manifestiert, symbolisiert, repräsentiert oder eben auch angegriffen und in Frage gestellt wurden.

Unter der Rubrik Werkstatt veröffentlichen wir in diesem Heft drei zeitgeschichtliche Beiträge. Anja Schröter untersucht Formen politischer Partizipation in der späten DDR und unter postsozialistischen Bedingungen. Im Lauf der 1980er Jahre formierte sich in der DDR Widerstand gegen eine Politik, die ganz auf den Abriss von Altbauten zugunsten von Neubausiedlungen setzte. Am Beispiel einer stadtentwicklungspolitischen Initiative in Dessau zeigt Schröter, dass und wie bereits vor 1989 partizipationsorientiertes Handeln jenseits der offiziellen Zielkultur entstand – und teils den Grundstein legte für politische Partizipation über den Systemwechsel hinaus.

Maria Alexopoulou wirft einen lokal- und mikrohistorischen Blick auf die wohnliche Unterbringung von als deutsch geltenden Aussiedler*innen und von Asylbewerber*innen aus nicht-europäischen Staaten in den 1970er Jahren. Dabei zeigt sich, dass Differenzzuschreibungen basierend auf race sowie die Hierarchisierung von Herkunft entscheidend dafür waren, wie mit den Wohnanliegen dieser beiden Gruppen umgegangen wurde. Vor diesem Hintergrund ist die aktuell diskutierte These, nach welcher Ostdeutsche ähnliche Abwertungserfahrungen machen wie Migrant*innen, kritisch zu hinterfragen.

Anna Valeska Strugalla thematisiert einen bisher wenig beachteten Aspekt in der Diskussion um die Restitution musealer Objekte aus kolonialen Kontexten, indem sie die Debatte selbst historisiert. Als Reaktion auf eine UN-Resolution, die die Rückgabe geraubter Kunstgüter forderte, verfassten im Frühjahr 1974 die Leiter von vier baden-württembergischen Museen ein Positionspapier zum Thema. Strugallas Analyse rückt die Museumsdirektoren als Akteure ins Zentrum und vermag deren Netzwerke, Intentionen und Sichtweisen als Basis bis heute wirkmächtiger Diskurse nachzuzeichnen.

In der Rubrik Debatte setzt sich Sebastian Schlinkheider mit den Herausforderungen der Geschichtswissenschaften im sogenannten »postfaktischen Zeitalter« auseinander. Er konstatiert, dass das gesellschaftliche Bedürfnis nach der eindeutigen »historischen Wahrheit« deshalb nicht erfüllbar ist, da es im Gegensatz zur geschichtswissenschaftlichen Praxis auf einem eindeutigen Wahrheitsbegriff basiert, der aus einem verzerrten Bild von (natur-)wissenschaftlicher Forschung in der öffentlichen Wissenschaftskultur resultiert. Eine Lösung sieht Schlinkheider in der Vermittlung von wissenschaftlichen Erkenntniswegen anstelle einer reinen Kommunikation wissenschaftlicher Ergebnisse.

Yektan Türkyılmaz untersucht in seinem Beitrag die Wirkung offizieller systematischer Verleugnungsideologien auf die wissenschaftliche Genozidforschung. Am Beispiel des Völkermords an den Armenier*innen (1915–1917) und in Dersim (1937–1938) zeigt er, dass selbst kritische Ansätze im Bann der offiziellen Geschichtspolitik gefangen sind und deren Narrative reproduzieren. Um die Problematik dieser Ansätze zu verdeutlichen, analysiert er die Klagelieder des Dichters Weliyê Wuşenê Yimami, die von den Massakern in Dersim erzählen, besonders das bekannte Hewayê Derê Laçi. Die Klagelieder dienen gleichzeitig dazu, ein alternatives Narrativ und eine alternative Methodik aufzuzeigen, um den Dilemmata der Forschung, die in der Logik der Verleugnungsideologie gefangen ist, zu entkommen.

Mit dem Wechsel zu einem neuen Verlag starten wir in diesem Heft zugleich unsere neue Rubrik Dingfest. Hier zeigen wir, inwiefern Objekte Erfahrungen und Wahrnehmungen von historischen Akteur*innen organisieren, auf welche Weise Objekte Teil von alltäglichen Handlungsvollzügen und Identitätsentwürfen sind und wie sie mit sozialen, kulturellen und epistemischen Machtstrukturen und Herrschaftspraktiken korrespondieren. Die Beiträge dieser Rubrik sind als Miniaturen eines close reading von Objekten konzipiert, die auf den ersten Blick zuweilen unscheinbar wirken mögen.

So beschäftigt sich Michael Markert mit einem Wachsquader aus einer Sammlung mikroskopischer Schnittserien menschlicher Embryonen und Föten, die zwischen 1942 und 1969 in Göttingen angelegt wurde. Er deutet den Quader dabei als Ausdruck einer spezifischen Forschungs- und Sammlungspraxis sowie als Hinweis auf zeitgenössische forschungsethische Maximen. Indem der Quader einen differenzierten Zugriff auf einen früheren Wissenschaftsalltag und vergangene humanembryologische Untersuchungsprozesse erlaubt, dient er heute einer – vom Objekt ausgehenden – reflexiven Sammlungs- und Wissensforschung.

In der Filmkritik führt Jan-Hendryk de Boer vor Augen, wie Jean-Luc Godard in den 1960er Jahren mit seinem kritischen Hinterfragen des Films und dessen Möglichkeiten, die Welt zu beobachten und zu deuten, zugleich geschichtstheoretische Vorstellungen auf die Probe stellte. In Week-end aus dem Jahr 1967 münden Godards Dekonstruktionen auf der Handlungsebene in eine mörderische Selbstzerstörung der zeitgenössischen kapitalistischen Gesellschaft und den Zusammenbruch menschlicher Zivilisation. Zugleich erweisen sich diverse Geschichtsmodelle auch visuell als obsolet. Sinnstiftung versagt auf ganzer Linie, auch im Kino.

Susann Lewerenz, Veronika Springmann und die Redaktion

 

[1] Stuart Hall, Representation. Cultural Representations and Signifying Practices, London 2012; Gertrude Stein, Sacred Emily, in: dies., Geography and Plays, Boston 1922, S. 178–188.

[2] Siehe Monika Wagner/Michael Friedrich, Einleitung, in: dies., Steine. Kulturelle Praktiken des Materialtransfers, Berlin 2017, S. 7– 12, hier v.a. S. 8 und 10.

[3] Siehe dazu Benjamin Bühler/Stefan Rieger, Bunte Steine. Ein Lapidarium des Wissens, Berlin 2014, S. 12–14.

[4] Ebd., S. 13.

[5] Wagner/Friedrich, Einleitung, S. 10.

[6] Vgl. dazu Bühler/Rieger, Bunte Steine, S. 7.

[7] Ebd., S. 15f.

[8] Adalbert Stifter, Bunte Steine. Ein Festgeschenk, Leipzig 1853.

[9] Bühler/Rieger, Bunte Steine, S. 12.