Editorial: Nr. 78 | krank machen

William Heath, „Monster soup commonly called Thames water, being a correct representation of that precious stuff doled out to us!!!”, ca. 1828, Trustees of the British Museum [1935,0522.4.121]
»Das ist doch krank!« – Solche Diagnosen sind schnell bei der Hand, wenn es um Unerwartetes, Unmoralisches oder Bedrohliches geht. Volkswirtschaften können »erkranken«, ganze Gesellschaften vom Populismus, Rechtsextremismus oder Islamismus »infiziert«, »angesteckt« bzw. »befallen« werden, um nur einige aktuelle Beispiele zu nennen. Gesundheit und Krankheit dienen als Zentralmetapher, an der wir unser soziales Koordinatensystem ausrichten. Pathologien sind daher nicht nur in Labors, Krankenhäusern und Arztpraxen verbreitet. Darüber hinaus dienen sie als alltägliche Zuschreibungen, wenn es um soziales Verhalten und soziale Spannungen geht. Dass solche Pathologien fatale Folgen haben können, zeigt Philipp Sarasin am Beispiel der Terrorismusbekämpfung seit dem 11. September auf. Seither seien in US-amerikanischen Debatten Krankheitszuschreibungen verbreitet, mit denen sich Folter und sogar ganze Kriege begründen lassen: »Der ›Terrorist‹ ist die Ikone schlechthin jenes ›unsichtbaren Feindes‘, der von außen in unsere Körper eindringt, um so von innen her zu zerstören. Eine fremde Spezies, die mit antibakteriellen Mitteln bekämpft werden muß.« [1]
In der Forschung erregen Pathologien seit langem Interesse. In der Geschlechter-, Medizin-, Migrations- und Psychiatriegeschichte, in Studien über Armut und Obdachlosigkeit, Behinderung und Homosexualität spielen soziale Zuschreibungen von Kranksein eine Schlüsselrolle. [2] Bisherige Arbeiten weisen nach, welche gesellschaftliche Brisanz Pathologien seit dem 18. Jahrhundert gewannen. Zum einen wurden viele Krankheiten des Einzelnen fortan als Ursache allgemeiner Probleme betrachtet. Dabei galt »abweichendes“, »problematisches« oder »fremdes« soziales Verhalten schnell als pathologisch: als ansteckend, zersetzend oder schwächend. Zum anderen begannen Experten wie Laien die moderne Gesellschaft selbst und ihre Begleitumstände wie die Urbanisierung und Industrialisierung als krankmachend zu problematisieren. Die Konjunktur an neuen Diagnosen wie Reizüberflutung, Nervosität oder »Zeitkrankheiten« geben dafür ein Beispiel. [3] Der Blick für Pathologien in ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen – in diesem doppelten Sinne – weitete sich seit der Frühen Neuzeit. Die Entwicklung einer »Medicinalpolicey«, die Etablierung der »Sozialmedizin« und »Sozialhygiene«, das Aufkommen von Reformbewegungen und Erbtheorien schärften in Europa und den USA das Bewusstsein für die soziale Dimension individueller Krankheiten und erhöhten die Bereitschaft zur Pathologisierung sozialen Verhaltens. [4]
Gesundheit begründete von nun an einen »neuen Gesellschaftsvertrag« [5] und fungierte als Gradmesser für »gutes Leben«. [6] »Der Körper«, erklärt Daniel Siemens die »Erfolgsgeschichte« moderner Pathologien, »wurde nun nicht mehr als unveränderbar und selbstverständlich wahrgenommen, sondern wurde zur Projektionsfläche von Ängsten und Utopien, musste auf Hochleistung oder scheinbare Natürlichkeit getrimmt werden, sollte Teil eines ›Volkskörpers‹ werden, konnte aber auch zerstört und vernichtet werden. Kurz: Der Körper wurde politisch.« [7]

Seit dem 18. Jahrhundert brachen Krankheitsdiagnosen zunehmend aus dem exklusiven Kreis medizinischer Fachdiskurse aus und gerieten zum Allgemeingut. Wir nennen solche populären Zuschreibungen soziale Pathologien: die Verschmelzung individuellen Verhaltens mit sozialen Verhältnissen zu einem untrennbaren Amalgam von Gesundheits- und Gesellschaftsentwürfen.
Was lässt sich zu diesem Amalgam angesichts der Berge vorliegender Forschungsbeiträge noch Neues sagen? Zunächst einmal konzentriert sich ein Großteil bisheriger Arbeiten auf Formen sozialer Disziplinierung in einem engen Sinne. Soziale Pathologien werden dabei oftmals als Selektions-, Exklusions- oder Repressionsinstrumente interpretiert. Deshalb bleiben zweitens zahlreiche Studien einer top-down-Perspektive verhaftet. Im Fokus stehen meist Krankheitskonzepte »großer Männer« in medizinischen Fachbeiträgen und Vorträgen, in Aufklärungsbroschüren und Ausstellungen, in Gesetzestexten, gesundheitspolitischen Vorschriften oder parlamentarischen Debatten. Damit geht es einem Großteil der Forschung bei Pathologien drittens um Diskurse im engeren Sinne, also um Semantiken in Fachbeiträgen und kommunikative Aushandlungen zwischen Experten. Mit diesen drei Befunden sind zugleich Potenziale weiterer Forschungen und neue Perspektiven angerissen, die dieses Themenheft eröffnet – und die wir im Folgenden kurz skizzieren möchten.
Erstens sind Disziplinierungen ambivalenter, als das oft verwendete Schlagwort »Biomacht« suggeriert. Während Michel Foucault mit diesem Begriff auch auf Bedürfnisse der Bevölkerung sowie Formen und Praktiken der Selbstdisziplinierung hinwies, konzentriert sich die Forschung gemeinhin auf staatliche Machtausübungen »von oben«. Pathologien waren aber nicht nur das gesundheitspolitische Mittel eines »biomächtigen« Staates, der seine Untertanen auf Linie bringen, sozialen Druck ausüben und »gesundes« Verhalten normieren wollte. Zugleich beförderten sie in der Bevölkerung eine Anspruchshaltung auf Gesundheit und Sicherheit, die wiederum den Handlungsdruck auf staatliche Akteure erhöhte. Wer Krankheiten diagnostizierte, sollte auch Mittel für ihre Therapie oder Prävention an der Hand haben. Pathologien waren also keine Einbahnstraße in dem Sinne, dass »Erkrankte« für die Allgemeinheit abgeschrieben, also aus der Gemeinschaft ausgeschlossen wurden, im Gegenteil: Oft waren sie höchst produktiv, indem sie mit Ideen von »Linderung«, »Besserung« oder »Heilung« kranken Verhaltens verbunden wurden, die auf gesellschaftliche Integration und Partizipation zielten. So zeigt Yvonne Robel in diesem Heft anhand des Umgangs mit »Faulen« die Ambivalenz von Pathologisierungen und Versuche der Reintegration auf. Auch im Kampf gegen »ungesunde Städte“, »verseuchte Landstriche« oder »kranke Milieus« ging es um die »Heilung« der Gesellschaft, mit der sich Experten ein gutes Zeugnis ausstellten. In diesem Zusammenhang weist Britta-Marie Schenk in ihrem Beitrag nach, wie sich das Bürgertum die »Heilung« von Obdachlosigkeit als Tätigkeitsfeld erschloss, um die eigene gesellschaftliche Bedeutung zu unterstreichen.
Pathologien eröffneten also gesellschaftliche Interventionsfelder, auf denen Akteure ihre Handlungsfähigkeit erprobten und Legitimation suchten. In diesem Sinne lassen sich Pathologien immer auch als eine ganz andere Form der Selbst-Disziplinierung verstehen, wie die Beiträge des Heftes zeigen: Wohlfahrtseinrichtungen, Gesundheitsbehörden und ganze Staaten standen in der Kritik, wenn sie für ihre Disziplinierungsversuche keine ausreichenden Ressourcen bereitstellten, wenn überzeugende Erklärungsversuche für soziale Bedrohungen fehlten oder »kranke Entwicklungen« nicht behoben wurden. Ebenso wichtig ist eine weitere Beobachtung, die Jens Gründler in seinem Beitrag zur Pathologisierung in Psychiatrien formuliert: Soziale Pathologien waren immer auch eine Ressource der »Selbstermächtigung«. Die »Erkrankten« selbst, ihre Ehepartner, Familienangehörige oder Freunde hatten erheblichen Anteil und mitunter auch ein strategisches Interesse an Pathologisierungen. Ihr Bericht bereitete dem Experten die Grundlage für eine Diagnose, die finanzielle Vorteile, Versorgungs- oder Versicherungsleistungen mit sich bringen konnte.
Damit wird zweitens deutlich, dass soziale Pathologien als Orientierungsrahmen ein Bedürfnis auf allen gesellschaftlichen Ebenen befriedigten. Zunächst einmal gaben und geben sie Orientierung über »gut« und »böse«, über »uns« und die »anderen«, also über Identitäts- und Gemeinschaftsentwürfe. Besonders eindrücklich zeichnet Annika Raapke diesen Zusammenhang in ihrem Beitrag zur kolonialen Thematisierung von Krankheitserfahrungen nach. Die Selbst-Pathologisierungen knüpften ein festes Band der Zusammengehörigkeit vor Ort sowie zwischen Kolonisierenden und Daheimgebliebenen, das selbst über den Atlantik reichte. Gemeinsame Krankheiten standen für gemeinsame Erfahrungswelten und als Beleg, dass man selbst in fernen Kolonien zur Heimat gehören wollte. Darüber hinaus dienten Pathologien als Orientierungsgröße für »gutes« Verhalten, wie Elisabeth Beck-Gernsheim betont hat:

»In modern society, for more and more people this faith in God, eternity and salvation has become brittle. What remains is the individual in the here and now and his or her physical condition. When faith in a world beyond has been dissolved, health gains in significance and value, it turns into the expectation of earthly salvation.« [8]

Pathologien gaben gewissermaßen eine Kontrastfolie ab für »richtiges« Verhalten und damit das gute Gefühl, auf der »richtigen« Seite der Gesellschaft zu stehen. Insofern waren Heilung, Besserung, Disziplinierung und Repression »pathologisch« »Fauler«, »Obdachloser«, »Süchtiger« ein Bedürfnis sowohl »von oben« als auch »von unten«.
Drittens nehmen die Autor*innen Pathologien als Praktiken in den Blick, womit sich der Titel des Heftes erklärt: »Krank machen« ist eine Kulturtechnik, die ein ganzes Set an Orten und Objekten, Regeln, Ritualen und Räumen aufruft. Katharina Kreuder-Sonnen hat das zuletzt an der »Wissenszirkulation« der Bakteriologie in Polen im 19. und 20. Jahrhundert aufgezeigt. Autos und Backöfen, das Halten von Versuchstieren oder das Pflegen von Nährböden spielten eine maßgebliche Rolle für das Wissen über Infektionskrankheiten, das wiederum einem state building Polens diente. [9] Die Pathologisierung von »Seuchenherden«, »Epidemiegebieten« und »Infektionswegen« eröffnete dem social engineering also als dritte Dimension den Raum. Entsprechende Wechselwirkungen zwischen Praktiken, Räumen, Körpern und Pathologisierungen des »Volkskörpers« hat Richard Sennet bereits Mitte der 1990er Jahre in seiner Stadtgeschichte von der Antike bis heute nachgewiesen. [10] Räume und Orte sind auch in den vorliegenden Beiträgen von Bedeutung. So wurden sowohl der koloniale Raum an sich als auch Raumbezüge zwischen Kolonien und Europa dank Pathologien in Briefen greifbar bzw. beschreibbar. An Orten wie Arbeitshäusern wiederum schrieben sich alltägliche Abläufe und Regeln und damit spezifische Praktiken des Heilens von »Arbeitsscheu« ein, die Auskunft geben über soziale Normen und Ordnungsentwürfe.
In dieser Perspektive eröffnen soziale Pathologien ein weites Forschungsfeld, auf dem in Zukunft noch viel zu tun sein wird. Darüber hinaus sind Zuschreibungen von Krankheiten ein Untersuchungsgegenstand, der für zahlreiche aktuelle Forschungstrends anschlussfähig ist: Studien zur Geschichte der Sicherheit, zur »Zukunftsgeschichte«, zur Geschichte der Prävention und Vorsorge, zur Migrationsgeschichte oder zur »Neuen Geschichte der Arbeit« kann eine Geschichte sozialer Pathologien neue Impulse verleihen. Die Krisen des Sozialstaats, gesellschaftliche und wirtschaftliche Liberalisierungsprozesse, der Wandel von Vorstellungen von »Leistung« und »Sicherheit« waren und sind der Humus, auf dem Pathologien gedeihen. Konzepte wie das von der »Vererbung« von »Hartz-IV-Biografien« und ihres Ansteckungspotenzials oder die von »Burnout« und »Boreout« verdeutlichen damit auch, dass krank machen keineswegs nur Geschichte, sondern immer auch unsere Gegenwart ist.
Der zum vierten Mal von WerkstattGeschichte ausgelobte Essaypreis geht in diesem Jahr an Laetitia Lenel. Angeregt durch die Themenvorgabe »Die Wahrheit der Geschichte?« reflektiert Lenel über Möglichkeiten einer demokratischen Geschichtswissenschaft im Zeitalter von »Fake News« und alternativen Fakten. Zwar gäbe es Überschneidungen zwischen populistischen Strategien und einem postmodernen Insistieren auf der Standortgebundenheit jeder Aussage, mithin der Relativität von (historischer) Wahrheit. Doch erteilt Lenel Forderungen nach einem »Neuen Realismus«, der wieder richtig von falsch trenne, eine Absage. Vielmehr plädiert sie dafür, Multiperspektivität und Polyphonie als Stärken einer kritischen Geschichtsschreibung zu erkennen und Vereindeutigungen selbstbewusst entgegenzutreten. Der Preis wird Laetitia Lenel im Rahmen des 52. Historiker*innentags in Münster verliehen – wir gratulieren herzlich!
Vor dem Hintergrund der Debatten um die in Berlin und München geplanten Ausstellungen zur Geschichte von Flucht und Vertreibung deutscher Bevölkerung aus ostmitteleuropäischen Gebieten nach dem Zweiten Weltkrieg analysiert Jana Piňosová in der Expokritik die Dauerausstellung des Schlesischen Museums in Görlitz. Sie hätte sich zwar mehr interaktive Angebote gewünscht und vermisst stellenweise Aktualisierungen, kommt aber insgesamt zu dem Ergebnis, dass es der Ausstellung gut gelingt, die transnationalen Aspekte der Geschichte einer heute größtenteils jenseits der deutschen Staatsgrenzen liegenden Region in den Mittelpunkt zu rücken und doch auch dem Bedürfnis ehemaliger Schlesier*innen und ihrer Nachkommen nach Angeboten der Selbstvergewisserung und Identifikation entgegenzukommen.

Yvonne Robel, Malte Thießen und die Redaktion

 

[1] Philipp Sarasin, »Anthrax«. Bioterror als Phantasma, Frankfurt a.M. 2004, S. 171, 164.

[2] Fundierte Forschungsüberblicke zu den jeweiligen Untersuchungsfeldern mit weiterführenden Literaturhinweisen bieten die Aufsätze dieses Heftes.

[3] Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 1998.

[4] Vgl. dazu als aktuellen Überblick Matthias Leanza, Die Zeit der Prävention. Eine Genealogie, Weilerswist-Metternich 2017.

[5] Dorothy Porter, The Social Contract of Health in the Twentieth and Twenty-First Centuries: Individuals, Corporations, and the State, in: Susan Gross Solomon/Lion Murard/Patrick Zylberman (Hg.), Shifting Boundaries of Public Health. Europe in the Twentieth Century, Rochester 2008, S. 45–60.

[6] Vgl. Malte Thießen, Gesunde Zeiten. Perspektiven einer Zeitgeschichte der Gesundheit, in: Frank Bajohr/Anselm Doering-Manteuffel/Claudia Kemper/Detlef Siegfried (Hg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik, Göttingen 2016, S. 259–272.

[7] Daniel Siemens, Von Marmorleibern und Maschinenmenschen. Neue Literatur zur Körpergeschichte in Deutschland zwischen 1900 und 1936 [Sammelrezension], in: Archiv für Sozialgeschichte 47 (2007), S. 639–682, hier S. 641.

[8] Elisabeth Beck-Gernsheim, Health and Responsibility: From Social Change to Technological Change and Vice Versa, in: Barbara Adam/Ulrich Beck/Joost van Loon (Hg.), The Risk Society and Beyond. Critical Issues for Social Theory, London 2000, S. 122–135, hier S. 124.

[9] Katharina Kreuder-Sonnen, Wie man Mikroben auf Reisen schickt. Zirkulierendes bakteriologisches Wissen und die polnische Medizin 1885–1935, Tübingen 2018.

[10] Richard Sennett, Fleisch und Stein. Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation, Frankfurt a.M. 1997 (EA 1994).