Editorial: Nr. 76 | werkstücke

Howard R. Hollem, »War Production Worker at the Vilter [Manufacturing] Company«, Februar 1943, Library of Congress, Washington, DC, Prints & Photographs Division, FSA-OWI Collection, [LC-DIG-fsac-1a34972]

Mit werkstücke legen wir ein Heft vor, mit dem wir Geschichte als etwas zu Bearbeitendes und Verarbeitendes verstehen möchten. Die hier versammelten Beiträge behandeln kein übergreifendes Thema, sie präsentieren vielmehr verschiedenartige Ansätze des kontinuierlichen Auseinander-Nehmens und Zusammen-Setzens von Wissen über Geschichte und dessen Ordnung(en). In der Zusammenschau verdeutlichen die Aufsätze des Hefts zweierlei: Dass die Arbeit in und mit Archiven nicht zu ersetzender Ausgangspunkt und wesentliche Stimulanz historischer Forschung ist. Und dass die Vielfalt an Perspektiven und Methoden den innovativen Kern gegenwärtiger Geschichtswissenschaft ausmacht. Mit der Ausrichtung des Hefts möchten wir nicht nur den Titel der Zeitschrift zum Programm machen, sondern zugleich an das Heft werkzeug aus dem Jahr 2010 anknüpfen, das seinerzeit das Erproben methodischer Zugänge in den Mittelpunkt rückte.

Im Thementeil entwickelt Christoph Lorke eine neue Perspektive auf die Geschichte der Diplomatie im 19. Jahrhundert. Er analysiert binationale Eheschließungen deutscher Diplomaten im Dienst Preußens und des Deutschen Kaiserreichs als Phänomene der Ein- und Entgrenzung. Ausgehend von der Beobachtung, dass eine Geschlechtergeschichte der Diplomatie des 19. und 20. Jahrhunderts, die auch männliche Akteure einbezieht, weitgehend fehlt, fokussiert Lorke auf die Eheschließung als Handlungsfeld, das wie kein zweites dazu geeignet war (und ist), Grenzen sowie deren Verschiebungen zu symbolisieren. Während die Diplomaten in einem transnationalen und transkulturellen Raum agierten und auch biografische Entscheidungen wie die Eheschließung in diesem Interaktionsraum trafen, versuchten die nationalstaatlichen Autoritäten zunehmend, diesen Lebensbereich ihrer Angestellten zu regulieren. Wie kulturelle Differenzen, wie die »fremde« Frau in diesem Handlungsfeld imaginiert wurden, zeichnet Lorke anhand verschiedener (Konflikt-)Fälle nach.

Dagmar Lieske thematisiert den Umgang der nationalsozialistischen Strafverfolgungsbehörden und der Justiz mit Pädophilie und sexuellem Kindesmissbrauch und bewegt sich damit auf einem auch aktuell sensiblen und politisch aufgeladenen Terrain. Mittels einer Analyse von Gerichtsakten des Berliner Landesarchivs verdeutlicht sie, dass insbesondere Akteure der Polizei und der Justiz unter dem Schlagwort der »vorbeugenden Verbrechensbekämpfung« über Handlungsspielräume verfügten, die entsprechende Verurteilungen vor Gericht nicht nur flankierten, sondern weit über diese hinausgehen konnten. An verschiedenen Einzelfällen diskutiert Lieske, inwiefern die in den Gerichtsakten dokumentierten Vorgänge zugleich auf etablierte gesellschaftliche Vorstellungen über Sexualität(en) schließen lassen.

Uwe Fuhrmann reflektiert über die außerordentlich reizvolle Aufgabe, ein kaum geordnetes Archiv zu sichten und einen Überblick über dessen Bestand zu erarbeiten. Konkret handelt es sich um das Archiv der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di), das aufgrund zahlreicher Abgaben durch die Vorläuferorganisationen zu einer großen Sammlung historischer Gewerkschaftsliteratur geworden ist. Fuhrmann beschreibt seinen eigenen Weg durch das Archiv und die Aneignung des Bestands mithilfe des von Walter Benjamin entwickelten Konzepts des »Flaneurs«. Sichtbar wird dabei das Materielle der Geschichte, das Haptische, aber auch das Assoziative, Kontingente und Mobile.

Stefan Vogt stellt Überlegungen zur spannungsreichen Beziehung zwischen Zionismusgeschichte und postcolonial studies zur Debatte. Um ein Traumpaar handelt es sich dabei bisher nicht – umso mehr plädiert er dafür, dass die analytische Beschäftigung mit Formen der Ausgrenzung und Unterdrückung gemeinsam stattfinden müsse. Dabei würden beide Theorieansätze voneinander profitieren. Besonderes Potenzial sieht Vogt in der Anwendung postkolonialer Perspektiven und Konzepte (bspw. Homi K. Bhabhas third space) auf den deutschsprachigen Zionismus, auf dessen ambivalentes Verhältnis zum deutschen Nationalismus, Kolonialismus und Antisemitismus sowie auf dessen Selbstpositionierung zwischen dem »Westen« und dem »Osten« bzw. dem »Okzident« und »Orient«. Ein wechselseitig inspirierender Blick würde letztlich auch dazu verhelfen, Annahmen über authentische Subjektivitäten oder essenzielle Identitäten immer wieder aufs Neue kritisch infrage zu stellen.

Historiker*innen sind mitunter ein bisschen beleidigt, wenn Spielfilme erheblich mehr Menschen für ein historisches Thema zu interessieren vermögen als ihre scharfsinnigen wissenschaftlichen Analysen. Und nur die wenigsten von uns könnten erklären, durch welche filmischen Mittel Anteilnahme mobilisiert und Verständnis befördert werden. Mangelnde filmanalytische Expertise mag ein Grund sein, weshalb sich manche aus unserem Fach selbst bei gelungenen Filmen hinter kleinlicher Kritik an Details verschanzen, die weggelassen, hinzufantasiert oder falsch dargestellt würden. Wie alle Autor*innen reduzieren auch Filmemacher*innen die Komplexität historischen Geschehens. Dazu müssen sie in Bild und Ton vieles erfinden, was nicht überliefert ist. Angelika Nguyen erläutert in unserer Rubrik Filmkritik, durch welche dramaturgischen Entscheidungen und schauspielerischen Leistungen der britische Film Philomena die empörende Geschichte des schwunghaften Handels der Katholischen Kirche Irlands mit unehelich geborenen Kindern in einer berührenden Mischung aus Ernst und Leichtigkeit präsentiert, der man sich als Zuschauerin kaum entziehen kann. Wer sich den Film von Stephen Frears aus dem Jahr 2013 (noch) einmal anschaut, sieht ihn daraufhin nicht nur mit wacheren Augen, sondern lernt zugleich viel über filmisches Erzählen ganz generell.

Anne Hübinger hat für die Expokritik das Little Museum of Dublin besucht, das die Geschichte Dublins im 20. Jahrhundert erzählt. Das auf einer Stiftung beruhende Museum hat durch Spenden eine äußerst vielfältige und umfangreiche Sammlung an Artefakten zusammentragen können, über die, neben der Hauptausstellung zur Gesellschaft Dublins, auch die Geschichte der Irish Times, des ehemaligen Oberbürgermeisters Alfie Byrne sowie der Rockband U2 rekonstruiert wird. Für Hübinger ist es die schiere Menge an Artefakten, die das Museum einerseits überfüllt wirken lässt und den Besucher*innen Geduld und Beharrlichkeit abverlangt, die aber andererseits das Museum zu einem herausragenden Ort macht, der die Diversität und Lebendigkeit der Dubliner Stadtbevölkerung vermittelt und in dem sich unglaublich viel entdecken lässt.

 

Die Redaktion