Editorial: Nr. 75 | in bewegung


Hannelore Hoger als Geschichtslehrerin Gabi Teichert in Alexander Kluges Film Die Patriotin (1979), Stiftung Deutsche Kinemathek.
Wir danken Alexander Kluge herzlich für die Genehmigung, das Bild nutzen zu dürfen.

»[B]lühender intellektueller Wildwuchs, liebevoller Quatsch« schrieb Der Spiegel 1979 über Alexander Kluges Film Die Patriotin. Und: »›Die Patriotin‹ erfordert mühevolle Schürfarbeit nach Sinn und Zusammenhang.« [1] Hannelore Hoger spielt in diesem Film Gabi Teichert, eine Geschichtslehrerin, die sich gegen den Kanon und gegen offiziöse Geschichtspolitik auflehnt. Auf dem Titelbild dieser Ausgabe gräbt sie nach archäologischen Überresten und sucht nach neuen Verbindungen, nach Details, die etwas bedeuten könnten oder auch nicht. Grabend und Geschichtsbücher mit Werkzeugen bearbeitend versucht Teichert, zu den Wurzeln der deutschen Geschichte vorzustoßen. Sich gegen die großen Erzählungen aufzulehnen, die Klarheiten und Vereindeutigungen der Geschichte erst einmal nicht zu akzeptieren, sie zu vergessen, noch einmal ganz genau und an Ort und Stelle hinzusehen, erforderte 1979 durchaus Mut – nicht zuletzt, weil andere es einfach als Quatsch oder als »Kraut und Rüben« (so Teicherts Vorgesetzter) bezeichnen konnten. Seither ist viel passiert. Die Geschichtswerkstätten­Bewegung der 1980er und 1990er Jahre hat an vielen Orten neue Deutungen der NS­Geschichte, der Geschichte des Alltags, gesellschaftlicher Gruppen und marginalisierter Individuen erarbeitet. Sie hat ex­zentrische und de­zentrierte Geschichten erzählt und damit das Zentrum in Frage gestellt und von den Rändern und den Peripherien her neue Fragen und Perspektiven entwickelt.

WerkstattGeschichte hat eine lose und verwickelte Verbindung zu diesen bewegten Geschichten und zur Schürfarbeit. [2] In ihrem Gründungsjahr 1992 wollte sie eine Zeitschrift »für alle [sein], die mit Geschichte arbeiten« und Geschichte »nicht als fertige Ware, sondern als experimentellen Umgang mit Vergangenheit« verstehen, eben ein »Forum, eine Werkstatt, für verschiedene Zugänge, Arbeitsweisen und Perspektiven«. [3] Ob sie das geschafft hat und noch immer leistet, ist eine Frage, die sich aus dem Inneren heraus nicht beurteilen lässt.

Wir haben uns als Redaktion entschlossen – trotz aller Kritik an der Konjunktur von und an der zunehmenden geschichtskulturellen Orientierung an Jubiläen [4] – , die 75. Ausgabe und die 25 Jahre WerkstattGeschichte zum Anlass zu nehmen, unsere Vorstellungen von »Schürfarbeit«, von »bewegter Geschichte«, vom »Graben«, vom »Arbeiten und Experimentieren« zu befragen und befragen zu lassen. Welche Relevanz haben die Gründungsprämissen von WerkstattGeschichte heute noch, können oder könnten sie heute noch haben? Mit der Auswahl der Beiträge und Interviews im Heft versuchen wir einen Bogen zu schlagen zwischen (inner­)akademischen Positionen und bestehenden Geschichtsinitiativen, um möglichen Verbindungen zwischen Bewegung und Wissenschaft auf die Spur zu kommen. Dieser Blickwinkel schließt damit diejenigen ein, an die sich WerkstattGeschichte richtet: Menschen, die – wie Gabi Teichert – mit Geschichte arbeiten, die Geschichte aber auch selbst als ein Werkstück begreifen, als etwas nicht Fertiges, das sich stets weiterentwickelt. Somit stellt dieses Heft eher eine Momentaufnahme dar als einen Rückblick. Wir blicken dahin, wo gerade in vielfältiger Weise an Geschichte gearbeitet wird. Dass wir dabei nicht wie sonst nur akademische Perspektiven bieten, soll Fenster öffnen und Dialoge anstoßen, die wir weiterführen wollen. Neben einer Reihe von Texten zur WerkstattGeschichte selbst, theoretisch­methodischen Überlegungen und Selbstdarstellungen von Initiativen haben wir uns deshalb für ein Format entschieden, das das Kommunikative von Geschichte betont. In einer Reihe von Interviews schauen wir in umstrittene Felder der gegenwärtigen Geschichte, fragen nach Bewegung, Geschlechter­ und postkolonialen Perspektiven, transnationalen und transkulturellen Ansätzen sowie Möglichkeiten und Formen kritischer Geschichtsschreibung heute. Dabei – so viel Nabelschau muss sein – stoßen wir immer wieder auf das vielbeschworene Motto des »Grabe wo du stehst«. Was jedoch bleibt von diesen lokal­ und alltagshistorischen Bemühungen angesichts veränderter gesellschaftlicher Verhältnisse, denen auch die Geschichtswissenschaft Rechnung trägt und vermehrt nach dem Globalen, dem großen Ganzen fragt? Wie bekommen lokal­ und alltagshistorische Forschungen, die ursprünglich an den nationalstaatlichen Rahmen gebunden waren, das Globale in den Blick? Wie sieht eine Globalgeschichte »von unten« aus und wer erarbeitet sie? Wie kann Geschichte anders geschrieben und können neue Erzählweisen entwickelt werden, die quer zur (herrschenden) Norm liegen, auch unter dem Aspekt meist sehr knapper Ressourcen? Auf welchen Feldern lohnt es sich, weiterzugraben? Das vorliegende Heft geht einigen dieser Fragen nach und liefert Ideen und mögliche Antworten.

Adelheid von Saldern und Etta Grotrian blicken zu Beginn des Heftes auf die Zeitschrift WerkstattGeschichte und die Geschichtswerkstätten­Bewegung. Von Saldern fragt, was aus den Slogans »Grabe wo Du stehst« (S. Lindqvist) und »Geschichte von unten« (E. P. Thompson) geworden ist, und schildert, wie diese Konzepte durch die Globalisierung und Transnationalisierung der Geschichtsschreibung beträchtlich erweitert wurden. Etta Grotrian zeigt, wie die Geschichtswerkstätten in den 1980er Jahren den bundesdeutschen Umgang mit Geschichte in Universität, Heimat­ und Geschichtsvereinen sowie der Politik durch eine kritische Perspektive ergänzen wollten. Anspruch und Wirklichkeit der gleichberechtigten und emanzipatorischen Zusammenarbeit mit historisch interessierten Laien fielen in der Praxis jedoch häufig auseinander.

Nach diesen Rückblicken auf WerkstattGeschichte und die Bewegung der Geschichts­werkstätten informieren Kerstin Wolff vom Archiv der deutschen Frauenbewegung in Kassel, Birgit Bosold, Aykan Safoğlu und Wolfgang Theis aus dem Schwulen Museum* in Berlin und Roman Aron Klarfeld vom Frauenforschungs­, ­bildungs­ und ­informationszentrum (FFBIZ) in Berlin über ihr Arbeiten mit Geschichte. In ihren Selbstbeschreibungen (Archiv der Frauenbewegung, FFBIZ) und im Interview (Schwules Museum*) diskutieren sie das Verhältnis von Archiv/Museum und sozialer Bewegung von den 1980er Jahren bis heute. Alle drei Initiativen sehen nach wie vor ihren Auftrag darin, Geschichten und Perspektiven von Personen, die aufgrund ihres Geschlechts oder ihrer Sexualität aus den Standardnarrativen herausfallen oder systematisch herausgeschrieben wurden und werden, in die gängigen Geschichtserzählungen und Institutionen einzuschreiben bzw. sichtbar zu machen.

Dass das Graben vor Ort auch globale und (post­)koloniale Geschichten zum Vorschein bringt und welche Möglichkeiten ebenso wie Abwehrreaktionen diese hervorrufen können, thematisieren Marianne Bechhaus­Gerst in einem Essay und Jan Küver (Museum Iringa Boma), Manuela Bauche (Kolonialismus im Kasten?) und Christian Kopp (Berlin Postkolonial) in Gesprächen mit WerkstattGeschichte. Marianne Bechhaus­Gerst fordert in ihrem Beitrag »Decolonize Germany?« eine »Geschichte vor Ort«, die sich auch mit der kolonialen Vergangenheit und deren Wirkungen in die Gegenwart auseinandersetzt. Sie macht deutlich, dass vor allem zwischen den politischen und zivilgesellschaftlichen Zielsetzungen und Aufgaben einerseits und der Wahrnehmung des Kolonialismus und seiner Folgen in der »Öffentlichkeit« andererseits ein nicht zu leugnendes Spannungsfeld besteht. Jan Küver, Projektleiter bei Fahari Yetu, berichtet über lokale Erinnerungsarbeit, kulturelles Erbe und das Museum Iringa Boma in Tansania. Das Interview fokussiert die Entstehungsgeschichte des Museums, die Einbeziehung lokaler Communities, die Bedeutung der Kolonialgeschichte vor Ort und unterschiedliche Geschichts­ und Museumskulturen in Deutschland und Tansania. Schließlich dokumentieren wir ein Gespräch zwischen Manuela Bauche von Kolonialismus im Kasten?, Christian Kopp von Berlin Postkolonial und WerkstattGeschichte. Beide Gruppen standen bzw. stehen in direkter Auseinandersetzung mit deutungsmächtigen Institutionen nationalstaatlicher Geschichtsschreibung, wie dem Deutschen Historischen Museum und dem Humboldtforum. Postkoloniale Perspektiven, so Bauche und Kopp, fänden nach wie vor kaum Eingang in gängige Narrative zur deutschen Geschichte, während eine als entpolitisierend verstandene Aneignung ursprünglich kritischer Begrifflichkeiten zu beobachten sei. Nicht nur die Themen kritischer Geschichtsschreibung, auch zentrale Konzepte und Methoden sind im Laufe der Jahre überprüft und modifiziert worden. Dorothee Wierling zieht Bilanz über die veränderten Rahmenbedingungen und technisch­methodischen Entwicklungen der Oral History in den letzten 25 Jahren. Dabei geht sie folgenden Fragen nach: Welche Wirkungen hatte der Zusammenbruch der staatssozialistischen Systeme in Europa? Wie veränderte das Zeitzeugen­Fernsehen den Status der Oral History in der Zunft? Welche Folge hat die Digitalisierung für den Umgang mit mündlichen Quellen? Und schließlich: Welchen Herausforderungen muss sich die Oral History in Zukunft stellen?

Die visuelle Ebene von Geschichte und Bewegung behandeln wir im Interview mit dem Umbruch Bildarchiv. Das Archiv sammelt und dokumentiert seit 1988 fotografische Erzeugnisse linker Bewegungen, nicht nur, aber insbesondere in Verbindung zur Stadtgeschichte Berlins und zu lokalen Entwicklungen.

Der Beitrag von Chris Rotmund von der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark beschließt den Teil zu aktiven Geschichtsinitiativen und schlägt gewissermaßen den Bogen zu den Anfängen der Geschichtswerkstätten­Bewegung. Seit den 1990er Jahren ergraben, erschließen und gestalten Aktivist_innen das Gelände des ehemaligen »Jugendschutzlagers« Uckermark, das sich in unmittelbarer Nachbarschaft zur KZ­Gedenkstätte Ravensbrück befindet. Die Initiative betont die Bedeutung des historischen Geschehens für die Gegenwart, stellt die Perspektive von Überlebenden und deren Angehörigen ins Zentrum des Erinnerns, konzipiert den Gedenkort als bewusst unfertiges Projekt – und entwirft ihr Konzept des »offenen Gedenkens« damit explizit in Abgrenzung zur benachbarten Gedenkstätte.

Michaela Hohkamp und Andreas Ludwig reflektieren in ihren Beiträgen kritisch die Veränderungen der Geschichtswissenschaft und die Entwicklung von WerkstattGeschichte. Michaela Hohkamp stellt den historiografischen und arbeitspraktischen Zusammenhang zwischen der anthropologischen Wende in den Forschungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts und den in dieser Zeit gegründeten Geschichts­werkstätten her und analysiert diesen Zusammenhang genauer. Andreas Ludwig diskutiert unter Rückgriff auf den Entstehungskontext Entwicklungslinien von WerkstattGeschichte und fragt nach den Möglichkeiten eines Gesellschafts­ und Gegenwartsbezugs in der Arbeit von Historiker_innen.

Im Debattenteil diskutiert Alf Lüdtke das philosophische Konzept der »Lebenswelt«. Zunächst historisiert er das von Alfred Schütz entwickelte »Lebenswelt«­Konzept als Teil der philosophischen Debatten der Zwischenkriegszeit und Schütz’ eigener Emigrationserfahrung. Anschließend problematisiert er, dass dieses Konzept zu stark das fraglos Gegebene ins Zentrum stelle. Ganz aus dem Blick gerate sowohl das Machen und Herstellen als auch all das, was jenseits des Horizonts der »Lebenswelt« zu erkennen oder doch zu vermuten sei. Lüdtke entwickelt – auf der Grundlage neuerer historischer Arbeiten, die »Lebenswelt« als analytisches Konzept nutzen – vier Vorschläge, um die »verriegelte Lebenswelt« für gebrochene Entwicklungen und Mehrstimmigkeit zu öffnen.

Für die Expokritik hat Stefan Krankenhagen das vom Europäischen Parlament initiierte und finanzierte House of European History besucht. Er zeichnet die politische und inhaltlich­konzeptionelle Entstehungsgeschichte des Museumsprojekts nach, bespricht das Ausstellungskonzept in seiner – auch räumlichen und sinnlichen – Umsetzung und zeigt sich v.a. von der nicht­teleologischen Argumentation überzeugt.

Die Redaktion

[1] Wolf Donner, Herrlicher Quatsch, Der Spiegel, Nr. 51, 17.12.1979, S. 144–145.

[2] Michael Wildt, Die große Geschichtswerkstattschlacht im Jahr 1992 oder: Wie WerkstattGeschichte entstand, in: WerkstattGeschichte 50 (2009), S. 70–77.

[3] Plattform, in: WerkstattGeschichte 3 (1992), S. 1.

[4] Catrin B. Kollmann, Historische Jubiläen als kollektive Identitätskonstruktion. Ein Analyseraster für Organisationen, Wissenschaftler und Besucher, Stuttgart 2014; Winfried Müller (Hg.), Das historische Jubiläum. Genese, Ordnungsleistung und Inszenierungsgeschichte eines institutionellen Mechanismus, Münster 2004.