Kulturtechniken der Nachahmung und Wiederverwendung – Remix, Mash-up, Coverversion, Pastiche – sind im digitalen Zeitalter ein beständiges Thema kultur- und medientheoretischer Publizistik. Diese Konjunktur ist den Vervielfältigungsmöglichkeiten digitaler Technik und dem viralen Potenzial sozialer Medien zu verdanken, wobei auch die medienökonomischen Implikationen der kreativen Umgehung des Urheberrechts (zumeist affirmativ) zur Sprache kommen.[1] Jenseits kreativkultureller Überhöhung (und hedonistischer Banalisierung) verweisen Medienwissenschaftler darauf, dass Produktimitation und Medienpiraterie nicht nur eine Begleiterscheinung formeller ökonomischer Strukturen darstellen, sondern ihrerseits neue Märkte mit hervorbringen.[2] Die Geschichtswissenschaft und mit ihr die Wirtschaftsgeschichte gingen bis jetzt eher zögerlich an die Rolle von Praktiken der Nachahmung (und ihrer Verhinderung) für das Entstehen und die Rekonfiguration von Märkten heran. Die AutorInnen des vorliegenden Hefts gehen den Bedingungen, Modalitäten und Effekten von Nachahmung anhand von vier historischen Konstellationen nach und geben dabei Aufschluss in dreierlei Hinsicht: Sie zeigen, wie an bestehenden Angeboten orientierte ähnliche Angebote geschaffen werden, wie daraus wiederum differente Angebote entstehen, und wie diese Imitationen strukturell prägend werden. Diese Vorgänge sind in zweifacher Weise produktiv: in einem primären Sinn, indem Imitationen die Versorgung von ansonsten von Angeboten ausgeschlossenen Personenkreisen ermöglichen. Dies ist umso gewichtiger, je niederschwelliger die Reproduktion und Distribution der betreffenden Güter möglich ist, je weniger materieller und sozialer Widerstand überwunden werden muss. In einem sekundären Sinn erweisen sich Imitationen als produktiv, indem sie Güter hervorbringen, die in dieser Form bisher nicht existierten.
Es scheint uns fruchtbar, diese Vorgänge nicht sogleich in Innovationsmodelle einzuordnen, deren Theoretisierungsleistung begriffsgeschichtlich zwar evident, dem empirischen Auflösungsvermögen diskurs- und praxisgeschichtlicher Ansätze jedoch zunächst wenig zuträglich ist. Für Joseph Schumpeter und die ihm folgende Innovationsforschung war Diskontinuität das charakteristische Merkmal des Übergangs aus einer regelhaften und formalisierbaren Konstellation in eine neuartige, wiederum als regelhaft beschreibbare Konstellation.[3] Wir möchten dieser Sicht einen Fokus auf Vorgänge der Imitation beiseite stellen und damit zu kontinuierlicheren Beschreibungen entsprechender Entwicklungen gelangen. Produktimitationen und Medienpiraterie sind demnach keine nachgeordneten, vernachlässigbaren und unterdrückungswürdigen Epiphänomene, sondern für wirtschaftliche Entwicklungen konstitutiv.
Wertvolle Anregungen geben Untersuchungen der neueren Wirtschafts- und Technikgeschichte, die Spannungen zwischen Theoretisierung und empirischer Triftigkeit überzeugend ausbalancieren. Zum einen haben Studien zum 18. und 19. Jahrhundert gezeigt, wie Prozesse der Nachahmung zum Entstehen neuer Produkte und Märkte beitrugen.[4] Zum anderen hat die Technikgeschichte auf die Persistenz »alter« Technologien aufmerksam gemacht und damit auf einen Alltagsvollzug, der am hohen Takt technischer Neuerungen und disruptiver Businessmodelle vorbei läuft.[5]
Die Wissens- und Mediengeschichte hat wiederum verdeutlicht, dass sich dieser Alltagsvollzug gleichwohl nicht auf der idyllischen Allmende historisch sedimentierter Erfahrung abspielt. Eine Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken ist dazu angehalten, die »medien- und kulturtechnischen Arrangements« zu berücksichtigen, »in denen ökonomisch handelnde Subjekte verhaftet waren«.[6] Studien zur Medienökonomie haben ökonomisches Handeln auf kommunikative Voraussetzungen bezogen[7] und die Aufmerksamkeit auf die »innere Ökonomie« der entsprechenden Aktualisierungen gelenkt.[8] Beide Ansätze sind dazu geeignet, die erwähnte Differenz zwischen informellen und formellen Ökonomien zu relativieren, was nicht bedeutet, die Wirkmächtigkeit juristischer Institutionen unter den Tisch fallen zu lassen. Vielmehr werden diese in ihrer historischen Spezifik kenntlich, wobei ihre Geltung affirmiert und ihre Wirkung auf soziale Praxis prekär bleiben muss.[9] Vor dem Hintergrund dieses Auseinandersetzungsstands sieht das vorliegende Heft die kulturgeschichtliche Erweiterung wirtschaftshistorischer Themen[10] nicht als komplementäre Angelegenheit, sondern begreift ökonomische und kulturelle Sachverhalte als phänomenal verschränkt.
Die Beiträge dieses Hefts gehen auf einen Workshop der DFG-Forschergruppe »Medien und Mimesis« (Zürcher Teilprojekt »Mimetische Ökonomien«) vom Herbst 2015 zurück. Die Forschergruppe verfolgt das Anliegen, Mimesis auch für Gebiete jenseits der Ästhetik fruchtbar zu machen. Dabei rücken insbesondere »mindere« Formen der Nachahmung in den Fokus, welche in darstellungstheoretischer Hinsicht anstelle der stilistischen Höhenlagen einen »niederen Materialismus“ programmatisch werden lassen.[11] »Mindere« Formen der Mimesis in diesem Sinne zielen auf exakte Nachahmung und erzeugen gerade in dieser exzessiven Mimikry Emergenzeffekte. Dieses Heft ist daher der Rückseite der technischen Reproduzierbarkeit gewidmet, um deren prozedurale, soziale und epistemische Implikationen in verschiedenen historischen Konstellationen auszuweisen.
Die Beiträge konzentrieren sich auf zwei historische Einschnitte. Kim Siebenhüner und Wendelin Brühwiler nehmen das Vor- bzw. das Umfeld der industriellen Massenproduktion in den Blick. Gleb J. Albert und Florian Hoof setzen bei den informationstechnologisch geprägten Milieus des ausgehenden 20. und frühen 21. Jahrhunderts an. Beide Einschnitte sind nicht nur durch sich ändernde Modalitäten der Vervielfältigung geprägt, sondern auch durch sich wandelnde Normierung materieller Praxis.[12]
Kim Siebenhüner untersucht die Entwicklung der Indienne-Industrie in der Alten Eidgenossenschaft. Dabei zeigt sie, wie die lokalen Produktions- und Wertschöpfungsprozesse mit europäischen und globalen Austausch- und Imitationsvorgängen verknüpft waren. Anhand der Zirkulation von Spezialisten und Waren beschreibt sie die Entstehung des neuen Industriezweigs im 18. Jahrhundert als Geschichte der Ausbreitung und Entwicklung industriellen Wissens, handwerklicher Fertigkeiten und stilistischer Merkmale. Fertigkeiten, etwa zur Farbmischung, verbreiteten sich vorwiegend über die Abwerbung von Spezialisten, die in der Eidgenossenschaft vielerorts verboten wurde. Designs verbreiteten sich über den Verkauf nach Muster, womit die Motive der Drucke schon früh im Modezyklus preisgegeben wurden. Dies eröffnete besondere Marktchancen für Imitate und führte zu frühen Copyright-Initiativen. Die mit den Indienne-Stoffen verknüpften europäischen Transfer- und Imitationsvorgänge zeigen, wie sich noch vor der Mechanisierung der europäischen Textilindustrie eine komplexe und raumgreifende Ökonomie ausbildete.
Während die Indienne-Industrie des 18. Jahrhunderts der Konflikt zwischen Zugang und Restriktion, zwischen Geheimhaltung und Verbreitung kennzeichnete, nimmt Wendelin Brühwiler in seinem Beitrag zu den Fabrik- und Handelsmarken des 19. Jahrhunderts ein deutlich verändertes strategisches Feld kommerzieller und industrieller Aktivitäten in den Blick. Seine Untersuchung analysiert publizistische und juristische Auseinandersetzungen zur französischen Markenregulierung in den 1840er Jahren. In den Skandalisierungen von »Fälschungen« und »Täuschungen« wurde ein als zunehmend prekär aufgefasster Zusammenhang materieller Sachverhalte mit der Bezeichnungs- bzw. Markierungspraxis verhandelt. Imitationen betrafen dabei nicht nur die Eigenschaften von Produkten im engeren Sinn, sondern deren kommunikative Begleitung: Bezeichnungen, Markierungen, oder Verpackungen. Die normativen Einsätze, mit denen die Streitparteien die Diskontinuitäten zwischen Zeichen und Dingen zu überbrücken versuchten, wiesen »zurück« auf primordiale Ordnungsvorstellungen und appellierten an eine zeichenpolitische Interventionsfähigkeit der Behörden. Sie wiesen aber zugleich auch »voraus« auf marktförmige Interaktionen und affirmierten deren ergebnisoffene Zuordnungsleistung. Gerade diese Divergenz wurde für die späteren Markenschutzregelungen prägend.
Gleb J. Albert untersucht die Frühzeit der Heimcomputerisierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Diese Phase ist geprägt durch (zumindest von der technischen Anlage her) uneingeschränkte Kopierbarkeit von Daten, die eine Neujustierung der immateriellen Eigentumsrechte mit sich brachte. Der Beitrag untersucht jedoch nicht Regulierungsdebatten, sondern taucht in eine Subkultur ein, die diese Debatten durch ihr Tun befeuerte – die sogenannte Cracker-Szene, eine transnationale Vergemeinschaftungsform zumeist männlicher Teenager, die mithilfe autodidaktischen Wissens den Kopierschutz von kommerziellen Computerspielen entfernten, entsprechend modifizierte Softwarekopien zirkulierten und ein Weiterkopieren der »geknackten« Spiele ermöglichten. Die Cracker prägten durch ihr Wissen den neu entstehenden Computerspielemarkt entscheidend – zugleich waren sie jedoch in ihrer subkulturellen Praxis von der zunehmenden Marktförmigkeit der Gesellschaft der 1980er Jahre geprägt. Ihrem Selbstverständnis gemäß positionierten die Cracker ihr Tun jenseits von Marktlogiken. Als »mimetische Unternehmer« aber eigneten sie sich Ethiken, Werte und Praktiken des »freien Marktes« an und setzten sie mimetisch in Szene.
Florian Hoof untersucht mit dem illegalen Streaming von Livesport ähnlich gelagerte Praktiken der Content-Piraterie. In einer film- und medienhistorischen Verortung zeichnet Hoof eine Genealogie der Sport-Liveübertragung nach, angefangen mit der Herstellung und Zirkulation von »fight pictures« zu Beginn des 20. Jahrhunderts über Satelliten- und Kabelformate der Nachkriegszeit bis hin zu individuellen konsumentengesteuerten Angeboten des digitalen Zeitalters. Von Anfang an waren die informellen und formellen ökonomischen Sphären, die Praktiken des Legitimen und Illegitimen nicht nur eng verflochten, sondern griffen sich gegenseitig auf – während mit den digitalen Netzwerkmärkten der »Konsumpirat« stärker als zuvor ins Zentrum rückte. Dieser ist – ähnlich den Crackern der 1980er Jahre – kein Antipode der formellen Ökonomie, sondern passt sich ein in die dominanten Gesellschaftsentwürfe, die das Individuum als frei handelndes und rational entscheidendes Subjekt in den Mittelpunkt rücken.
Im Debatten-Teil dieses Heft diskutiert Carola Sachse, welche Regeln guter wissenschaftlicher Praxis im Fall von Projekten der historischen Aufarbeitung »schlimmer Vergangenheiten« (Christian Meier) beachtet werden sollten. Sie stellt historisches Forschen den Natur- und Biowissenschaften gegenüber und bezweifelt, ob Historikerinnen und Historiker in gleichem Maß einen Ethik-Kodex für ihr Arbeiten benötigen. Für Projekte historischer Aufarbeitung, zumal in Kooperation mit, im Auftrag oder angestellt von Firmen, Behörden oder anderen gesellschaftlichen Gruppen lassen sich gleichwohl Mindeststandards formulieren, die nicht zuletzt in die Verträge Eingang finden sollten.
Die Expokritik widmet sich dem Völkerkundemuseum im sächsischen Herrnhut, das in seiner Entstehung eng mit der Mission der Herrnhuter Brüdergemeine verwoben ist. Das Museum stellt eine Vielzahl von Objekten aus den unterschiedlichsten Regionen aus, in denen die Brüdergemeine missionarisch aktiv war, vom Himalaya bis Surinam. Diese Konstellation führt schon zur Problematik der Ausstellung, nämlich der Frage, wie und ob die zahlreichen Verbindungen der Mission und dieser Art von Sammlungen zum Kolonialismus sichtbar gemacht und für ein breites Publikum verständlich dargestellt werden.
Gleb J. Albert, Wendelin Brühwiler und die Redaktion
[1] Dirk von Gehlen, Mashup. Lob der Kopie, Berlin 2011; Lawrence Lessig, Remix. Making Art and Commerce Thrive in the Hybrid Economy, New York 2008; Matt Mason, The Pirate’s Dilemma. How Youth Culture Is Reinventing Capitalism, New York 2009.
[2] Ramon Lobato/Julian Thomas, The Informal Media Economy, Cambridge 2015. Die OECD schätzt den Anteil „gefälschter“ Produkte am Welthandel für erhebliche Teile der Bekleidungs- und Unterhaltungsindustrie auf rund 10%. http://oecdinsights.org/2017/07/11/want-to-catch-a-counterfeiter-check-your-filter/ (letzter Zugriff 18.7.2016).
[3] Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, Leipzig 1911. Für den Einfluss und die Rezeption Schumpeters in den auf ihn folgenden Innovationskonzepten siehe auch: Lea Haller, Innovation, in: Christof Dejung/Monika Dommann/Daniel Speich Chassé (Hg.), Auf der Suche nach der Ökonomie. Historische Annäherungen, Tübingen 2014, S. 97–123.
[4] Maxine Berg, From Imitation to Invention. Creating Commodities in Eighteenth-Century Britain, in: The Economic History Review 55 (2002) 1, S. 1–30; Lara Kriegel, Culture and the Copy. Calico, Capitalism, and Design Copyright in Early Victorian Britain, in: The Journal of British Studies 43 (2004) 2, S. 233–265.
[5] David Edgerton, The Shock of the Old. Technology and Global History Since 1900, Oxford 2007.
[6] Monika Dommann/Daniel Speich Chassé/Mischa Suter, Einleitung: Wissensgeschichte ökonomischer Praktiken, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014) 2, S. 107–111, hier S. 109.
[7] Ralf Adelmann/Jan-Othmar Hesse/Judith Keilbach/Markus Stauff/Matthias Thiele (Hg.), Ökonomien des Medialen. Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften, Bielefeld 2006.
[8] Hartmut Winkler, Diskursökonomie. Versuch über die innere Ökonomie der Medien, Frankfurt a. M. 2004, insb. S. 110–130, der entschieden über Kommunikation und Informationsverarbeitung hinausweist.
[9] Mario Biagioli/Peter Jaszi/Martha Woodmansee (Hg.), Making and Unmaking Intellectual Property. Creative Production in Legal and Cultural Perspective, Chicago 2011.
[10] Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt a. M. 2004.
[11] Siehe Friedrich Balke, Mimesis und Figura. Erich Auerbachs niederer Materialismus, in: ders./Hanna Engelmeier (Hg.), Mimesis und Figura. Mit einer Neuausgabe des ‘Figura’-Aufsatzes von Erich Auerbach, Paderborn 2016, S. 13–88.
[12] Ein entsprechendes Bedingungsverhältnis hat anhand der Entwicklung der Urheberrechte Monika Dommann nachgewiesen: Monika Dommann, Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel, Frankfurt a. M. 2014.