Editorial: Nr. 69 | anti/koloniale filme

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Die sukzessive und oft gewaltsame Auflösung der europäischen Kolonialreiche zählt zu den folgenreichsten Prozessen des 20. Jahrhunderts. In ihrer Kernphase, beginnend mit der Unabhängigkeit Indiens im Jahr 1947 und endend mit dem Rückzug Portugals aus seinen afrikanischen Kolonien im Jahr 1975, entstanden weltweit über 100 neue Staaten. Damit veränderten sich die Lebenswelten von Millionen Menschen, die sich in neu gegründeten (National-)Staaten wiederfanden, radikal. Gleichwohl überdauerten militärische, administrative, wirtschaftliche und bildungspolitische Strukturen die Kolonialzeit ebenso wie die oft willkürlichen politischen Grenzziehungen der Kolonialmächte. Die neuen Eliten sahen sich vor die Herausforderung gestellt, die Versprechen des antikolonialen Kampfes – Entwicklung und Wohlstand – unter extrem ungünstigen Rahmenbedingungen einzulösen, ein Unterfangen, das oftmals in Zwangsmaßnahmen und Gewaltaktionen gegen die eigene Bevölkerung ausartete. Aber auch die Gesellschaften der ehemaligen Kolonialmächte mussten ihr Selbstverständnis und ihre Stellung in der Welt neu definieren. Sie mussten den „Verlust“ der Kolonien deuten und mit Sinn versehen, die häufig blutigen Kolonialkriege, beispielsweise in Indochina oder Algerien, und deren Folgen verarbeiten und Rückkehrer aus den Kolonien integrieren. Das zog oftmals umfangreiche Debatten über das Selbstverständnis und die Identität der jeweiligen Nation nach sich.
Filme waren in diesen Prozessen wichtige Medien, in denen Deutungen der Dekolonisation verhandelt wurden. Filmproduzenten aus den Ländern der ehemaligen Kolonialmächte und ehemaliger Kolonien thematisierten, popularisierten und interpretierten den Zerfall der europäischen Kolonialreiche in zahlreichen Filmen. Sie bedienten sich dabei einer Fülle an unterschiedlichen Genres, darunter Dokumentarfilme, Documentaries, Interviews und Spielfilme. Dabei machten sich spätkoloniale Machtkämpfe, antikolonialistische Impulse sowie die meist konfliktträchtigen Dekolonisierungsprozesse sowohl in allen Bereichen der Filmproduktion als auch der Filmrezeption bemerkbar. Weil die Filme unterschiedliche Deutungen der Entkolonisierung anboten, lösten sie in zahlreichen Fällen heftige Kontroversen über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit aus. Dadurch beeinflussten sie selbst die Wahrnehmungsweisen der Dekolonisation. Die Analyse der Produktion und Rezeption von (Anti-)Kolonialismus im Film verspricht daher wertvolle Einsichten für die Dekolonisierungsforschung, die Mediengeschichte und die transnationale europäische Gesellschaftsgeschichte, und sie vermag Impulse für weitere Studien auf diesem Feld zu liefern.
In diesem Heft von WERKSTATTGESCHICHTE fasst Jürgen Dinkel eingangs in einem kritischen Literaturbericht die verstreut vorhandene politik- und mediengeschichtliche sowie filmwissenschaftliche Forschung zum Thema „Film und Dekolonisation“ zusammen. Er zeigt, dass die 1960er Jahre in der Art und Weise, wie außereuropäische Gebiete und Bevölkerungen im Film dargestellt wurden und werden, eine Zäsur markieren. Die Grenzen des Zeig- und des Sagbaren verschoben sich dabei beträchtlich. Es eröffneten sich Räume für neue, auch experimentelle Darstellungsweisen der Dekolonisation, die sich parallel zu älteren etablierten und diese herausforderten. Der in der Forschung immer wieder geforderte postkoloniale Blick findet im Filmschaffen dieser Jahre ein erstaunliches Repertoire an Quellen.
Anschließend gehen drei Fallstudien anhand von Regisseuren, Filmen und Filmrezeptionen der Frage nach, wie sich die filmische Darstellung von Kolonialismus und Dekolonisierung seit den 1960er Jahren verändert hat. Gillo Pontecorvos Film Die Schlacht um Algier, laut Edward Said einer „der bedeutendsten politischen Filme, die je gemacht wurden“ [1], steht im Mittelpunkt des Beitrags von Johannes Pause. Der Film entstand im Jahr 1966, vier Jahre nach der Gründung des unabhängigen algerischen Staates, als eine algerisch-italienische Koproduktion, und er gilt vielen Filmexperten als Geburtsstunde des „postcolonial cinema“ [2]. Wie einige andere italienische Filmemacher, etwa Francesco Rosi oder Elio Petri, suchte Pontecorvo in den 1960er Jahren nach einer Möglichkeit, das Kino des Neorealismus ins explizit Politische zu wenden und dabei die generelle Notwendigkeit eines Kampfes gegen die koloniale Gewalt deutlich werden zu lassen. Vor diesem Hintergrund analysiert Pause die Entstehung des Films, die Organisation des filmischen Raums und ausblickhaft auch dessen überaus bewegte Rezeptionsgeschichte.
Einen größeren, von der Forschung bislang nur wenig beachteten Filmskandal der Bundesrepublik löste im Sommer 1966 der italienische Film Africa Addio aus. Der dem pseudodokumentarischen Mondo-Genre zuzurechnende Film setzte sich mit dem Prozess der Dekolonisation Schwarzafrikas auseinander, die er aus einer spätkolonialen Perspektive heraus sehr kritisch wertete. Kai Nowak ordnet Africa Addio filmhistorisch ein, unterzieht ihn vor dem Hintergrund des (anti-)kolonialen Diskurses in der Bundesrepublik einer formal-inhaltlichen Analyse und untersucht seine facettenreiche Rezeptionsgeschichte. Dabei zeigt sich, dass der Film durch die schockauslösende Qualität filmischer Authentizität und deren skandalöses Potential zwar prominent und vernehmbar eine Stellvertreterdebatte über das Verhältnis Deutschlands und Europas zum postkolonialen Afrika anstieß. Die Debatte schlug allerdings bald in eine über die deutsche Vergangenheit und das Selbstverständnis der deutschen Gesellschaft um, während die Ereignisse in Afrika schrittweise an Bedeutung verloren.
Christoph Kalter, Inga Kreuder und Ulrike Peters untersuchen in ihrem Beitrag schließlich die Auseinandersetzungen, die in portugiesischen Spielfilmen um die Kolonialherrschaft geführt wurden. Anhand von João Botelhos Um Adeus Português (1986), dem ersten portugiesischen Spielfilm, der die Dekolonisierung explizit thematisierte, sowie dem mehrfach ausgezeichneten Film Tabu (2012) des portugiesischen Regisseurs Miguel Gomes verfolgt der Beitrag zunächst die unterschiedlichen Narrationen und Annäherungen beider Filme an die Geschichte und die Erinnerungen an die portugiesische Kolonialherrschaft. Anschließend analysieren die AutorInnen eine auffällige Gemeinsamkeit beider Filme: In ihren Repräsentationen des Vergangenen wird ausschließlich den weißen PortugiesInnen eine Stimme gegeben. Die Kolonialisierten treten in beiden Filmen nur als Randfiguren ohne SprecherInnen-Position auf. In diesem Punkt verweisen beide Filme auf einen generellen Mangel an multiperspektivischen, kritischen Auseinandersetzungen mit dem portugiesischen Kolonialismus nach der Nelkenrevolution des Jahres 1974. Dass der postkoloniale Diskurs mittlerweile dennoch im portugiesischen Kino angekommen ist, wird abschließend mit Verweis auf João Vianas A batalha de Tabatô (2013) gezeigt. Vianas Film überzeugt nicht nur durch eine alternative Herangehensweise an das Thema, sondern auch durch die Abwendung von einer rein weißen Erzählperspektive. Damit deutet sich – über ein halbes Jahrhundert nach dem Höhepunkt der Dekolonisationswelle – auch in diesem Medium eine neue Phase an.

Auch in der Rubrik Werkstatt geht es um Geschichte und Film: Sabine Moller stellt ihr Forschungsvorhaben „Zeitgeschichte sehen“ vor, mit dem sie im deutsch-amerikanischen Vergleich untersucht, wie Geschichte in Spielfilmen von Zuschauenden wahrgenommen wird. Moller betrachtet diesen Vorgang als interaktiven Aneignungsprozess und erläutert mit konkreten Beispielen theoretische Orientierung und methodisches Vorgehen in ihrem Projekt.
In der Expokritik stellt Steffi de Jong die Dauerausstellung des im letzten Herbst neu eröffneten Museums der Geschichte der polnischen Juden in Warschau POLIN vor. Hier geht es ebenso, wenn auch auf anderer Ebene, um die medialen Möglichkeiten und Grenzen der Darstellung von Geschichten, die nicht in klassische Erfolgserzählungen passen. Wie funktioniert und wirkt der im Museum verfolgte Ansatz, Geschichte als multiperspektivisches, visuelles Narrativ zu erzählen?

Jürgen Dinkel, Dirk van Laak und die Redaktion


Anmerkungen:

[1] Edward W. Said, Reflections on Exile and other Essays, Cambridge, MA 2001, S. 283.
[2] Robert Stam, Fanon, Algeria and the Cinema. The Politics of Identification, in: Ella Shohat/Robert Stam (Hg.), Postcoloniality, Multiculturalism, and Transnational Media, New Brunswick, NJ 2003, S. 18–43.

 

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