Editorial: Nr. 66/67 | europas sklaven

WERKSTATTGESCHICHTE Cover Ausgabe 66-67Aloft all hands, strike the top-masts and belay;
Yon angry setting sun and fierce-edged clouds
Declare the Typhon’s coming.
Before it sweeps your decks, throw overboard
The dead and dying – ne’er heed their chains
Hope, Hope, fallacious Hope!
Where is thy market now?
J. M. W. Turner, 1812.

Als der britische Künstler Joseph Mallord William Turner sein Ölgemälde The Slave Ship zusammen mit diesem selbst verfassten Gedicht 1840 in der Royal Academy in London ausstellen ließ, hatten sich die Abolitionisten in England, zu denen auch Turner gehörte, gerade durchgesetzt. Bereits 1807 hatte das britische Parlament die Beteiligung englischer Schiffe am Sklavenhandel untersagt und 1833 war ein allgemeines Sklavereiverbot für das gesamte britische Imperium in Kraft getreten. Während The Slave Ship in der Royal Academy hing, tagte die Anti-Slavery League in London. Turners Bild rekurriert auf das sogenannte Massaker auf der Zong: der Kapitän des Sklavenschiffs Zong hatte wegen angeblicher Wasserknappheit 1781 angeordnet, mehr als 130 Sklaven über Bord zu werfen, um die Versicherungsprämien für sie einzustreichen. Auf der in schweren Rot- und Brauntönen gehaltenen Szenerie eines Sonnenuntergangs über stürmischer See steht auf den ersten Blick der Überlebenskampf eines in Seenot geratenen Segelschiffs im Zentrum. Das eigentliche Sujet des Gemäldes wird dagegen erst bei genauerem Hinsehen erkennbar: Im Vordergrund, von den Wellen schon fast verschlungen, lassen sich dunkelhäutige, in Ketten gelegte Arme und Beine ausmachen, auf die sich herbeieilende große Fische und Vögel stürzen. Anders als in seinem Gedicht, in dem Turner scharfe, fast sarkastische Worte für die Not und das Elend von Sklaven in einer marktorientierten Kolonialgesellschaft des Industriezeitalters findet, lässt er den Bildbetrachter das Ausgeliefertsein und die besondere Verletzlichkeit der Sklaven in seiner romantischen Naturmalerei erst auf den zweiten Blick erkennen.

The Slave Ship bringt damit bildlich zum Ausdruck, worum es in dem vorliegenden Doppelheft »Europas Sklaven« im Kern geht: um die bis zur Unkenntlichkeit verschleierte Realität europäischer Verwicklungen in die Geschichte der Sklaverei, die erst bei genauerem Hinsehen an Deutlichkeit gewinnt. Dabei ist es nicht zuletzt eine Folge des zu Turners Zeit aufgekommenen europäischen Abolitionismus-Diskurses, dass die Geschichte der Sklaverei im westlichen Geschichtsbewusstsein bis heute außerhalb Europas verortet wird. Neben den Idealen der Aufklärung und dem französischen Leitspruch von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit war die Abschaffung der Sklaverei für die Herausbildung des Selbstverständnisses eines modernen Europa konstitutiv. Sklaverei gehörte in den Orient – seit jeher der Inbegriff westlicher Alterität – und in die dunklen Kapitel der eigenen Kolonialgeschichte außerhalb Europas, die man glücklicherweise hinter sich gelassen hatte. Das »christliche Abendland« aber galt – und gilt gemeinhin bis heute – als sklavenfrei.

Dieses Selbstbild Europas hat inzwischen Risse bekommen und in der Geschichtswissenschaft sind nicht zufällig Anti-Modernisierungs-Narrative und nicht-lineare Geschichten en vogue. Dabei hat insbesondere die Erforschung der Geschichte der Sklaverei in den letzten Jahren einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Entscheidende Impulse kamen einerseits aus der südamerikanischen, insbesondere der brasilianischen Sklavereiforschung der Neuzeit und andererseits aus den Mediterranean Studies der Vormoderne. Beide Wissenschaftscommunities wirkten an einer grundlegenden Infragestellung bisheriger Sklavereikonzepte mit. Während die Einen unter dem Stichwort »Second Slavery« oder »Hidden Slavery« auf die unfreien Lebensverhältnisse der sogenannten emancipados, recaptives oder Kulis in den post-emanzipatorischen Gesellschaften außerhalb Europas hingewiesen haben, haben die Anderen eine fast erdrückende Fülle bisher unbeachteter Überlieferung zu alltäglichen reziproken Versklavungspraktiken muslimischer und christlicher Gesellschaften des Mittelmeerraums zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert zutage gefördert. Anstelle der Institution und Rechtsform Sklaverei sind deren Praktiken und Akteure mit ihrer jeweiligen Agency in den Blick gerückt.

Kaum etwas jedoch wissen wir weiterhin über die Präsenz von Sklavenhändlern, SklavenbesitzerInnen und SklavInnen im Europa nördlich der Alpen. Mit Ausnahme der sogenannten »Hofmohren« an den Herrscherhöfen und auf den Herrscherporträts der Frühen Neuzeit, die als exotisches Extra ins europäische Bildgedächtnis gehören, ist dieses Feld bislang kaum beforscht worden. Das vorliegende Doppelheft ist deshalb diesem »blinden Fleck« bisheriger Sklavereiforschungen gewidmet. Es versammelt sieben Beiträge überwiegend junger AutorInnen, die neue Dokumente sichten oder bekannte Überlieferungen neu lesen und den direkten und indirekten Verwicklungen von EuropäerInnen in das Sklavereigeschäft nachspüren. Der Bogen wird dabei vom Hochmittelalter bis in die Gegenwart und von Schweden und den Niederlanden bis nach Bulgarien und an den Ural gespannt. Es geht um indirekte Handels- und Kapitalverflechtungen und die direkte Versklavung von Kriegsgefangenen bzw. der eigenen Bevölkerung im nordalpinen Europa und immer wieder um das Anschreiben gegen gängige Annahmen der Spezialforschung und der öffentlichen Meinung.

Das Heft setzt ein mit einer Verflechtungsgeschichte der longue durée. Von der spätmittelalterlichen Leinenproduktion bis zum europäischen Zuckerkonsum des 19. Jahrhunderts zeigt Klaus Weber vielfältige Verbindungen des europäischen Gewerbes, des Handels und des Konsums zur Sklaverei auf. Im zweiten Beitrag, der zeitlich bis ins 9. und 10. Jahrhundert zurückgreift, überprüft Undine Ott einige der gängigen Annahmen europäischer Sklavereiforschung zum mittelalterlichen »Sklavenreservoir« Ostmittel- und Osteuropas und kommt mithilfe einer re-lecture von Hortfunden arabischer Münzen und arabischen Überlieferungen aus diesem Raum zu vollkommen neuen Erkenntnissen. Karwan Fatah-Black und Matthias van Rossum führen am Beispiel des niederländischen Kolonialreiches vor, in welchem Maße Sklavenarbeit ein Wirtschaftsfaktor für die Niederlande war, dass die SklavInnen der europäischen Kolonialherren trotz des Einfuhrverbotes nicht an den Grenzen Europas Halt machten und die Erfahrungen mit Sklaverei und SklavInnen den Alltag der Niederländer durchdrangen. Der Beitrag von Magnus Ressel widmet sich am Beispiel der Hafen- und Handelsstadt Hamburg bzw. dem Raum der Niederelbe den Investitionen von Hamburger Händlern und Seeleuten in den transatlantischen Sklavenhandel und deren Implikationen für die Hansestadt als Wirtschaftsstandort vor 1800. Manja Quakatz sowie Joachim Östlund behandeln sodann die frühneuzeitliche Kriegsgefangenen- und Lösegeldsklaverei, die für den mediterranen Raum inzwischen gut erforscht ist, hier aber für das Alte Reich und den skandinavischem Raum verblüffend ähnliche Befunde zutage fördert. Während Manja Quakatz dabei vor allem das Schicksal kriegsgefangener osmanischer Frauen und Kinder im Reich in den Blick rückt, geht Joachim Östlund innerchristlichen Geheimverhandlungen zwischen Dänemark und Venedig zum Verbleib von rund 600 schwedischen Kriegsgefangenen nach. Den Abschluss bildet schließlich ein zeithistorischer Beitrag von Dienke Hondius, die aktuelle Entwicklungen und Tendenzen europäischer Erinnerungspolitik und neue Praktiken des Gedenkens im Hinblick auf die europäische Vergangenheit der Sklaverei aufzeigt.

In der Rubrik Debatte wird dieses Mal direkt Bezug genommen auf das Oberthema des Heftes, indem die beiden Heftherausgeberinnen Doris Bulach und Juliane Schiel mit dem Mediävisten und Feudalismus-Experten Ludolf Kuchenbuch über die Aktualität des Themas Sklaverei, die Ergebnisse dieser Heftbeiträge und die Verknüpfung der vorliegenden Befunde mit künftigen Fragen nach unfreier Arbeit in Vergangenheit und Gegenwart diskutieren.

Der Essaypreis 2014 unserer Zeitschrift stand unter dem Thema »Was ist Geschichte wert?« Hinter dieser Frage verbargen sich nicht zuletzt selbstkritische Überlegungen: Welche Bedeutung wird Geschichtsschreibung in unserer heutigen Gesellschaft beigemessen und welche Vorstellungen von ihrer Finanzierung und ihren Freiräumen lassen sich daraus ableiten? Sind Historikerinnen und Historiker angesichts von akademischen und wirtschaftlichen Zwängen in der Lage, Chancen der neuen Nachfrage nach Geschichtserzählungen und -deutungen wahrzunehmen und zugleich den Gefahren einer Trivialisierung und Instrumentalisierung von Geschichte zu begegnen? Eröffnen neue Medien und neue Formen der Refinanzierung auch der kritischen Geschichtsschreibung neue Möglichkeiten? Die Jury – Achim Landwehr, Ursula Krechel, Joël Glasman, Karsten Holste, Inge Marßolek, Thomas Lindenberger und Dietlind Hüchtker – hat den Essay von Aleksandra Pawliczek prämiert, den wir in der Rubrik »Debatte« veröffentlichen. Aleksandra Pawliczek erläutert, dass der »Wert der Geschichte« im Aushandlungsraum der Trias Politik, Wissenschaft und Gesellschaft oszilliert. Historisches Wissen gewinne seinen Wert und seine Relevanz in Prozessen der Übersetzung und Vermittlung zwischen den verschiedenen Akteuren und forme im Rahmen dieser Praxis einen konstruktiven und wertvollen Dialog der (Selbst-)Verständigung und der (Selbst-)Vergewisserung über das Gestern, das Heute und das Morgen.

Für die Filmkritik hat sich Maria Fritsche Fritz Kortners Film Sarajevo von 1955 über die letzten zwei Tage des österreich-ungarischen Thronfolgerpaares angesehen. Der in Wien geborene, aus Deutschland vertriebene Kortner neigte nicht im geringsten zu der damals im Nachkriegskino üblichen Verklärung der Habsburgermonarchie, sondern inszenierte im Gegenteil in sprechenden Bildern die Antiquiertheit und Reformunfähigkeit des Wiener Hofes. Maria Fritsche arbeitet die Sympathien Kortners sowohl für den marginalisierten Thronfolger als auch für seinen Attentäter heraus und analysiert, wie in Sarajevo mit filmischen Mitteln eine Deutung der historischen Ereignisse erfolgt.

Zwei Ausstellungskritiken beleuchten das Thema Sklaverei auf andere Weise. Jessica Moody stellt das International Slavery Museum in Liverpool vor und diskutiert daran die Probleme, wie Sklaverei als Erfahrung von Betroffenen zwischen globalen Zusammenhängen und lokalen Verortungen, zwischen historischen Präzisierungen und aktuellen Bezügen, zwischen Verfremdung und Aneignung relevant bleiben und ausgestellt werden kann. Zunächst ganz andere Probleme diskutiert Sarah Czerney in der Vorstellung des kritischen Audioguide, der unter dem Titel Kolonialismus im Kasten? durch die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums führt. Denn er bürstet die Narrative des DHM gegen den Strich, um dadurch überhaupt erst Kolonialismus und Sklaverei sichtbar zu machen und den kolonialen Blick zu brechen. Sklaverei bzw. Kolonialismus, so ließe sich vielleicht schlussfolgern, scheinen v. a. auch auf der Ebene der Narrative und Historiografien ein höchst aktuelles und umstrittenes Thema zu sein.

Doris Bulach, Juliane Schiel und die Redaktion

 

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