Editorial: Nr. 63 | kinder

cover-063 Kinder! Kinder!

Ein Heft liegt vor Ihnen, in dessen Mittelpunkt Kinder stehen. Das ist ebenso außergewöhnlich wie notwendig, denn die Stimmen der Kinder waren bislang kein herausragender Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Forschungen. Über Kinder wurde zwar viel geforscht und viel geschrieben, aber die Versuche, Kinder selbst zum Sprechen zu bringen, ihre Lebenswelten aus ihren Perspektiven nachzuzeichnen, sind rar gesät. [1] Wie, bitteschön, sollen Kinder denn auch zum Sprechen gebracht werden, lautet ein viel gehörter Einwand. Noch dazu solche Kinder, die schon lange nicht mehr leben? Die früh verstorben sind? Die weder lesen noch schreiben konnten? Doch auch die schreibkundigen Kinder haben kaum Zeugnisse hinterlassen, jedenfalls nicht in Quellen vor 1820. Allenfalls in Aufzeichnungen dritter Hand kommen Kinder vor: in literarischen Werken, auf Bildern, in Handbüchern zur Erziehung, in Gesetzestexten, in Stadtchroniken, in den Memoiren oder Briefen ihrer Angehörigen. Kinder, so das Fazit, haben in den Quellen über sie keine originären Stimmen. Doch wer hat die schon?

Die Suche nach den originären Stimmen, nach den authentischen Zeugnissen muss in jedem Fall ergebnislos verlaufen. Hier sind Kinder keine Ausnahme, sondern ebenso die Regel wie alle anderen Subjekte der Geschichte. Doch es gibt Möglichkeiten der Annäherung an Kinder und ihre Lebenswelten. So ist es durchaus möglich, die Bedingungen und Spielräume kindlicher Weltwahrnehmung und die Aneignung der Lebenswelten, in die Kinder hineingeboren wurden, zu rekonstruieren. Diesem Versuch sind die Beiträge des vorliegenden Heftes gewidmet. Dabei ist es ein Anliegen, transepochal an das Thema heranzugehen und so Perspektiven herauszuarbeiten, durch die sich Kinder und ihre historischen Lebenswelten ebenso wie ihre Praktiken und Sinnkonstruktionen künftig erforschen lassen. Die zugrunde liegende Überlegung geht davon aus, dass die Epochengrenzen unter Umständen weniger relevant sind als die Kontexte, in denen Kinder heranwachsen bzw. die sie im Laufe ihres Heranwachsens durchlaufen, erleben, erinnern. So ist festzustellen, dass insbesondere Studien zum Mittelalter und zur Frühen Neuzeit in Bezug auf die Rekonstruktion kindlicher Lebenswelten und Erfahrungshorizonte konvergieren. [2] Das zweite Anliegen dieses Themenheftes ist es, Kindheit in einer transkulturellen Perspektive zu betrachten. Aus dem Zusammenschnitt der vier Beiträge sollen sich Inspirationen zu transkulturellen Herangehensweisen an Kinder in der Geschichte herausschälen, die von den Beiträgen ebenso wie vom geschichts- und kulturwissenschaftlichen Hintergrund der jeweiligen Leserin, des jeweiligen Lesers genährt werden. [3] Denn, und diese Einsicht ist zentral für alle Beiträger und Beiträgerinnen: Kindsein ist keine anthropologische Konstante, sondern konstituiert sich für jedes Kind in sozialen Relationen. Dem Alter als einer dieser Relationen gehört die besondere Aufmerksamkeit der hier versammelten Beiträge.

Im Anschluss an die ebenso viel gehörten wie oft gescholtenen Zweifel an dem Mehrwert der Frauen- und Geschlechtergeschichte ließe sich fragen: Was verändert sich in unserem Verständnis von Geschichte, wenn nun (auch noch) Kinder einbezogen werden? Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass die Geschichte der Kindheit und die Einbeziehung von Kindern in die Geschichtsschreibung nicht dasselbe ist! Die Geschichte der Kindheit wurde bislang vor allem als eine Geschichte von Auffassungen über Kinder, von normativen Konzepten zur Erziehung sowie zur Bildungsfähigkeit von Jungen und Mädchen und damit auch über einen bestimmten sozialen Stand geschrieben. Die seit Ariès’ wegweisender Studie [4] heiß diskutierte Frage, ab wann es eine Vorstellung von Kindheit als eigener Lebensphase gegeben habe, verweist exemplarisch auf dieses Dilemma: weder kann es eine Vorstellung von Kindheit geben, die alle eint, noch führt die (moderne) Frage nach einer als eigenständig wahrgenommenen Lebensphase in die historischen Kindheiten. Aber Kinder, daran kann kein Zweifel bestehen, hat es immer gegeben!

Kinder sind auch in der Geschichte angeeckt und aktenkundig geworden. Sie waren zu laut, wie etwa in Quäkerschriften beklagt wird. [5] Sie standen im Weg, wie Stadtchroniken zu Kinderunfällen zeigen. [6] Sie lagen in falschen Betten, wie Rechtsordnungen des ausgehenden 18. Jahrhunderts belegen. [7] Sie sind zu früh gestorben und ihr Tod hat Schmerzen verursacht, wie Trauerschriften verdeutlichen. [8] Sie waren zu ungeduldig, um zu herrschen. Dies bezeugen Handreichungen fürstlicher Eltern an ihre Söhne. [9] Sie hatten zuviel Einbildungskraft, wie Zaubereibefragungen zeigen. [10] Und sie hatten einen eigenen Willen, wenn es um ihre Religionszugehörigkeit ging. [11] Einträge in ihre Tagebücher aus dem 19. Jahrhundert dokumentieren, dass sie nur schrieben, weil sie sollten, nicht weil sie wollten. [12] Kritzeleien aus frühneuzeitlichen Schulen belegen, wie humorvoll niederländische Schüler sein konnten. [13] Anhand dieser Beispiele wird klar, dass sich die Geschichte der Kindheit als Geschichte der Kinder schreiben lässt, ohne dass es sich um Kindergeschichten handelt, die bestenfalls vernachlässigt werden können. Sich der Geschichte über Kinder her zu nähern heißt, soziale Logiken des Handelns, des Denkens, des Fühlens und der Wahrnehmung aufzudecken, die oft genug quer zu sozialen Praktiken und Logiken von Erwachsenen liegen.

In chronologischer Hinsicht steht der Beitrag des englischen Historikers Jeremy Goldberg an erster Stelle. Goldbergs Beitrag führt uns direkt in die prekären, bedrohlichen Lebenswelten von Kindern im hochmittelalterlichen England. The Drowned Child steht für dieses bedrohte, gelegentlich gerettete Leben und seinen Widerhall in den Berichten der Stadtkämmerer sowie in Wundererzählungen.

Im Beitrag von Heike Frick wird ein Thema aufgegriffen, das den europäisch-nordamerikanischen Diskurs der Geschichte der Kindheit über Jahrzehnte bestimmt hat: die Frage, ob und wie Angehörige Kinder betrauerten, die früh verstorben sind. Von der chinesischen Geschichte und der Narrativierung dieser frühen Tode und Verlusterfahrungen her betrachtet, ergeben sich viele Anknüpfungspunkte an neuere Forschungen insbesondere zu Europa. Beinahe interessanter sind die Antworten auf die Frage nach dem Maß der erlaubten Trauer und nach eventuellen Unterschieden im Trauern um Söhne oder Töchter.

Annekathrin Helbig verlegt die transkulturelle Perspektive in das Mecklenburg des 18. Jahrhunderts und setzt sich in ihrem Beitrag mit Kinderkonversionen auseinander. Dabei findet insbesondere die Frage nach der Bemessung und Bedeutung von Un-/ Mündigkeit und der Un-/ Reife des Gewissens und der Willenskraft der Kinder Beachtung, die vom jüdischen zum christlichen Glauben wechseln wollten oder sollten. Religionszugehörigkeit und Alter lassen sich hier als zwei elastische Relationen im Umgang mit Kinderkonversionen nachvollziehen.

Brigitte Kerchners Beitrag ist es zu verdanken, dass wir die normativen – d. h. insbesondere die juristischen und sich in den juristischen Debatten niederschlagenden theologischen und ansatzweise auch biologischen – Konzepte nachvollziehen können, die die Herausbildung von Kindheitsvorstellungen und die – entscheidend – auch den Zuschnitt kindlicher Lebenswelten im 19. Jahrhundert in deutschen Territorien kennzeichneten. So wird ein neuer Blick auf die Genese der bürgerlichen Gesellschaft ermöglicht, der zeigt, dass weder die Liebe zu den Kindern eine Erfindung der Moderne ist noch ihr Gegenteil, die Vernachlässigung oder Gleichgültigkeit. Neu und prägend bis in die Gegenwart hinein ist hingegen die zunehmend anonymer auftretende staatliche Gewalt als wirksames Regime in den familiären und sozialen Beziehungen.

Die vier Beiträge verstehen sich jeder an sich und in ihrer Zusammenstellung als Denkanstöße hin zu einer Geschichte der Kindheit, die nicht (nur) über Kinder, sondern ausgehend von Kindern geschrieben wird und – wie hoffentlich deutlich wird – geschrieben werden kann.

Ole Münch entwirft in der Rubrik Werkstatt eine neue Lesart für die Reportagen des englischen Journalisten Henry Mayhew über die Unterschichten Londons Mitte des 19. Jahrhunderts. Die Repräsentationen irischer Straßenhändler etwa sind keineswegs nur Zeugnisse eines bürgerlichen cultural otherings. Münch zeigt, dass Mayhews Texte in einen wechselseitigen Prozess der Auseinandersetzung eingebunden waren. Nicht nur interviewte er die Straßenhändler und berief große Versammlungen ein, sondern letztere diskutieren die Reportagen, schrieben Leserbriefe und beschwerten sich über vermeintliche Herabwürdigungen. Mayhew war Teil der alltäglichen Identitätsbildung der Straßenhändler, die sich von anderen ethnisch-sozialen Gruppen abgrenzten und ihr ökonomisches Handeln an diesen Grenzen ausrichteten.

Frank Uekötter stellt Überlegungen zur Historisierung technologischer Gefahren und Katastrophen zur Debatte. Ausgangspunkt ist der Wandel der »Katastrophenkultur« im digitalen Zeitalter. Entstanden sind neuartige kulturelle Muster des Umgangs mit Desastern sowie ihrer Wahrnehmung und Bewältigung. Visuelle Repräsentationen suggerieren Unmittelbarkeit und Einsicht. Die neuen Kommunikationsformen erzeugen zugleich neue Blindstellen und Tabus des Technikversagens. Uekötter fordert Konsequenzen für die wissenschaftliche Beschäftigung mit historischen Katastrophen, die sich ihrer Zeitgebundenenheit bewußt ist. Er liefert Anstöße zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Konzept »Risikotechnologie« und fordert, weniger auf auf das Exeptionelle und mehr auf schleichende Technikgefahren zu blicken. Die Technikgeschichte kann vorhandene Fähigkeiten nutzen, die etwa in der Analyse von Expertenkulturen und Wissensgenese liegen.

In der Filmkritik stellt Sophie-Charlotte Schippmann den tschechoslowakischen Spielfilm von 1965 Obchod na Korze (The Shop on Main Street) vor. Im Vergleich zu westlichen Filmen, die die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden erst fast gar nicht und dann oftmals mit viel zusätzlichem, überzeitlichen Melodrama inszenierten, kommt dieser Film erstaunlich leichtfüßig und mit viel dezenter Situationskomik daher. Der Protagonist, so zeigt Sophie-Charlotte Schippmann, ist ein überaus durchschnittlicher Mensch, der 1942 unter dem Regiment slowakischer Faschisten – ohne Mut und ohne bösen Willen – zu einem überaus durchschnittlichen Mitläufer und Profiteur der sogenannten Arisierung jüdischer Geschäfte wird. Am Ende ist es allerdings gerade diese Durchschnittlichkeit, seine Unentschlossenheit und Furchtsamkeit, durch die er mehr Unheil anrichtet als irgendeine andere Figur in diesem Film.

Claudia Jarzebowski und die Redaktion


Anmerkungen:

[1] Vgl. die Erträge des Projektes »Living as a Child in England«: Philippa Maddern/ Stephanie Tarbin (Hg.), Children’s Worlds in Europe, c. 1400–1750 (in Vorbereitung für 2014).
[2] Barbara A. Hanawalt, The Child in the Middle Ages and the Renaissance, in: Willem Koops/ Michael Zuckerman (Hg.), Beyond the Century of the Child. Cultural History and Developmental Psychology, Philadelphia 2003, S. 21–43.
[3] Damit grenzen sich die Beiträge des vorliegenden Heftes von Ansätzen ab, die eine World History of Childhood propagieren, vgl. dazu: Peter Stearns, Childhood in World History, New York 2006.
[4] Philippe Ariès, Geschichte der Kindheit, München 1978 (frz. 1960).
[5] Paola Baseotto, Puritan Children and the Emotions of Conversion, in: Claudia Jarzebowski/ Thomas M. Safley (Hg.), Childhood and Emotion in Transcultural Perspectives, New York (im Druck), S. 89–106.
[6] Siehe Jeremy Goldberg in diesem Heft.
[7] Siehe Brigitte Kerchner in diesem Heft.
[8] Claudia Jarzebowski, Loss and Emotion in Funeral Works on Children in Seventeenth Century Germany, in: Lynne Tatlock (Hg.), Enduring Loss in Early Modern Germany, Leiden 2010, S. 187–213.
[9] Claudia Jarzebowski, Lieben und Herrschen. Fürstenerziehung im späten 15. und 16. Jahrhundert, in: Saeculum 61 (2011) 1, S. 39–56.
[10] Vgl. u. a. Claudia Jarzebowski, »Er solle sich solches nicht einbilden lassen«. Kinder unter Hexereiverdacht in Mecklenburg-Schwerin im 17. Jahrhundert, in: Wolfgang Behringer/ Claudia Opitz (Hg.), Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder (in Vorbereitung für 2014).
[11] Siehe Annekathrin Helbig in diesem Heft.
[12] Rudolf Dekker/ Arianne Baggerman, Child of the Enlightenment. Revolutionary Europe Reflected in a Boyhood Diary, Leiden 2009.
[13] Annemarieke Willemsen, Back to the Schoolyard. The Daily Practice of Medieval and Renaissance Education, Turnhout 2007.

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