Editorial: Nr. 54 | werkzeug

„Ein Werkzeug ist ein Hilfsmittel, um auf Gegenstände (Werkstücke oder Materialien im weitesten Sinne) mechanisch einzuwirken […]. Eine größere Menge verschiedener oder die Gesamtheit aller Werkzeuge, die nötig für eine Tätigkeit sind, nennt man Werkzeugsatz, in weiterem Sinne die Ausrüstung (in einer Werkstatt, eines Handwerkers, eines Facharbeiters). [1]
Werkzeug bezeichnet in unserem Zusammenhang die unterschiedlichen Methoden, mit denen historisches Material betrachtet, ausgewählt, bearbeitet und gestaltet werden kann. Dieses Heft wurde nicht mit einem spezifischen thematischen Fokus geplant, vielmehr präsentiert es Beiträge, die sich anhand unterschiedlicher Themen mit neueren, mehr oder weniger erprobten methodischen Zugängen in der Geschichtsschreibung befassen – histoire croisée, Performanz-, Emotions- und Erinnerungsforschung. Inhaltlich knüpfen die Aufsätze an verschiedene Themenhefte von WERKSTATTGESCHICHTE aus der jüngeren Zeit an, etwa Die Farbe „weiß“ und Empire is coming home.
Im Thementeil entwickelt Eva Bischoff eine neue Perspektive auf koloniale Verflechtungsgeschichten. Am Beispiel des Delikts Kannibalismus und seiner Ahndung, das sie vergleichend in Deutsch-Ostafrika um 1900 und in der Weimarer Republik untersucht, veranschaulicht sie die intensive Verflechtung zwischen Kolonie und Mutterland. Dabei differenziert sie zunächst zwischen rituellem Kannibalismus in der Kolonie des Kaiserreichs und kannibalischen Sexualstraftätern im Deutschland der 1920er Jahre. Anhand von Fallstudien gelingt es ihr, die engen Beziehungen zwischen der ethnologischen und der kriminologischen Wissenschaft vom Kannibalen zu rekonstruieren. Besondere Aufmerksamkeit richtet sie auf die diskursiven Praktiken im Gerichtsverfahren und kommt zu dem Schluss, dass kannibalische Alterität als Kennzeichen einer vermeintlich niederen anthropologischen Entwicklungsstufe galt – sei es im Fall des ‚Wilden‘ in der Kolonie oder des Sexualstraftäters im Mutterland. Beide wurden als gefährliche Abweichungen von westlicher ‚Modernität‘ und ‚Zivilisation‘ wahrgenommen, ohne in einem unmittelbaren Zusammenhang zu stehen.
Sebastian Jobs reflektiert in seinem Aufsatz über die New Yorker Siegesparade einer afroamerikanischen Militäreinheit im Jahr 1919 die jüngsten Debatten um race und gender. Die Parade der ‚Harlem Hellfighters‘, die erste umfassende öffentliche Ehrung schwarzer Soldaten in der US-amerikanischen Geschichte, interessiert ihn als ein performatives Feld, in dem sich durch die körperliche Interaktion von Soldaten und Publikum Gemeinschaften und Wirklichkeiten erst konstituierten. Jobs stellt sie in den größeren Zusammenhang zwischen Militärdienst und Bürgerrechten, der für schwarze Soldaten seit den 1860er Jahren virulent war. Er untersucht die Inszenierung des schwarzen Körpers ebenso wie seine Wahrnehmung durch Öffentlichkeit und Presse: Anders als ältere Darstellungen, in denen der männliche Afroamerikaner entweder als kindlich und fröhlich oder aber als unzähmbar und gewalttätig figurierte, beschreiben die Berichte von der Siegesparade zunächst disziplinierte schwarze Soldaten mit den Insignien der Macht, im weiteren Verlauf jedoch eigensinnige schwarze Männer. Die Parade und ihre Bewertung – so Jobs’ Schlussfolgerung – stand somit zwar für politische Partizipation und afroamerikanischen Stolz, doch gleichzeitig für das Festhalten an den Konzepten race und gender.
Der Debatten-Beitrag widmet sich den Ursprüngen und der Entwicklung der Geschichte der Emotionen und beansprucht für die Kategorie Emotion einen zentralen Platz in der geschichtswissenschaftlichen Analyse. Jan Plamper präsentiert hier ausführliche E-Mail-Interviews mit drei prominenten VertreterInnen der Emotionsgeschichte – William Reddy, Barbara Rosenwein und Peter Stearns –, die seit den 1980er Jahren unterschiedliche Schlüsselkonzepte für eine Geschichte der Emotionen entwickelt haben. William Reddy schildert seinen Werdegang aus der historischen Ritualforschung und Geschlechtergeschichte und erläutert sein Konzept des ‚emotionalen Regimes‘. Die Mediävistin Barbara Rosenwein beschreibt, wie sie koexistierende ‚emotionale Gemeinschaften‘ – Emotionsnormen und Ausdrucksmodi verschiedener Gruppen – rekonstruiert. Peter Stearns, der mit Arbeiten zur Sozial- und Geschlechtergeschichte begann, skizziert sein Konzept der ‚Emotionologie‘. Alle drei Interview-Partner diskutieren die Möglichkeiten und Grenzen ihres jeweiligen emotionsgeschichtlichen Entwurfs.
In der Rubrik Werkstatt präsentieren Christian Gudehus und Stewart Anderson neuere methodische Zugriffe der Medienwissenschaft und Rezeptionsforschung. Anhand des Spielfilms Hotel Ruanda (2005), der den Genozid in Ruanda im Jahr 1994 zum Gegenstand hat, untersuchen sie die unterschiedlichen Deutungen der Betrachtenden. Nicht der Film und seine Handlung stehen im Mittelpunkt der Untersuchung, sondern die Erinnerungen des Publikums an den Film. Auf der Grundlage von Befragungen US-amerikanischer und deutscher ZuschauerInnen weisen Gudehus und Anderson der filmischen Erzählung einen sekundären Rang in der Konstitution von Erinnerung zu. Die Art und Weise des Erinnerns, so die These der Autoren, ist vielmehr durch die jeweilige Prädisposition der Betrachtenden – ihre persönlichen Erfahrungen, ihren Bildungsweg, ihre Persönlichkeit – und die daraus hervorgehenden Assoziationen und Interpretationen bestimmt.
In der Zusammenschau bieten diese Beiträge Einblicke in den vielfältigen Werkzeugkasten der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft.
Die Expo-Kritik wendet sich der Kulturhauptstadt Essen zu. Thomas Parent fragt, wie sich das neue Ruhr Museum „im Spannungsfeld zwischen Sammlungsüberlieferung und Revier-Identität“ positioniert. Er stellt nicht nur die neue Dauerausstellung vor, sondern skizziert auch den Weg der Musealisierung des Ruhrgebiets von den ersten kommunalen Museumsgründungen über das Ruhrlandmuseum zum neuen Ruhr Museum, das in diesem Jahr auf dem Zechengelände von Zollverein seine Tore öffnete. Im Zentrum steht dabei die Frage, wie und mit welchen Akzenten das Museum die gesamte Geschichte einer im Wandel begriffenen Region präsentiert und eine wesentlich durch Kohle und Stahl geprägte Identität des Ruhrgebiets in die Zukunft tradiert.

Die Redaktion 

[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Werkzeug.