Editorial: Nr. 53 | grenzgänge

Unbekannter Grenzgänger zwischen den USA und Mexiko, www.borderfilmproject.com

»Borders are social constructions with everyday effects in real lives«, so die Soziologin Avtar Brah.[1] Grenzen sind Orte der Macht; dies beweisen die Realität von Wachtürmen und Stacheldraht als extremer Ausdruck von Souveränität und deren Möglichkeit, die Grenze einer territorialen Macht zu bestimmen.[2] Grenzen sind aber nicht nur machtvoll, weil sie konkrete Auswirkungen auf das Leben von Menschen und auf den Warenverkehr haben, sondern auch, weil sie uns dazu bringen, die Welt in territorialen Kategorien wahrzunehmen und damit unser Handeln bestimmen. Während Grenzen damit einerseits als materielle Gegebenheiten gesehen werden können, lassen sie sich andererseits auch als Ergebnis diskursiver Prozesse verstehen.[3]
Grenzen haben neben ihrer territorialen Dimension vielfältige Funktionen, Bedeutungen und Effekte. Ihre oftmals zufällige Natur ebenso wie ihr konstruktiver Charakter sind inzwischen unbestritten – auch wenn der Effekt der Grenzziehungen und der die Bildung des territorialen Nationalstaates begleitende Nationalismus lebendiger sind als je zuvor. Es gibt nichts »Natürliches« – weder physisch noch sozial – an Grenzen. Sie sind »literally impositions on the world«[4], wie es der Geograf John Agnew ausdrückt. Sie sind weder reine Metapher noch reine Materialität; sicher sind Grenzen aber niemals Objekte, die eigenmächtig und systematisch Räume sichern, in denen Identitäten oder Interessen sich unhinterfragt entwickeln können. Es ist, so könnte man behaupten, die fortwährende Instabilität von Grenzen, die ihnen – nicht nur in den Augen von Nationalisten – eine derart symbolische Kraft verleiht.
Unabhängig von diesem Verständnis geopolitischer und territorialer Grenzen werden Grenzen auch als kulturelle Ordnungssysteme verstanden. Während Grenzen ehemals als Linien zwischen Staaten galten, deren Existenz internationale Abkommen regelten, begreift die Forschung sie gegenwärtig vorwiegend als sozio-territoriale Konstrukte und als Ergebnisse von sozialen Praktiken und Diskursen. Die grenzüberschreitenden kulturellen Aspekte wurden jedoch lange Zeit zugunsten der ökonomischen, juristischen und politischen vernachlässigt. Grenzüberschreitende oder grenzkonstituierende Kulturen und Aushandlungsprozesse sind ebenso wichtige und lebendige Dimensionen wie beispielsweise grenzüberschreitende Warenströme oder zwischenstaatliche Vertragswerke.
Die kulturellen Dimensionen von Grenzen und ihren Überschreitungen stehen im Zentrum dieses Heftes. Mit dem cultural turn, dem Einzug der Diskurs-, Alltags- und Mikrogeschichte und der zunehmenden Zahl von Regional- und Lokalstudien hat sich innerhalb der »Border Studies« bereits seit den 1980er Jahren ein verstärktes Interesse an Praktiken und Sprache, Symbolen und Wahrnehmungen gezeigt. Einige Grundannahmen prägen auch die im Thementeil versammelten Artikel: Erstens sind Grenzen weder starr noch auf Ewigkeit angelegt, sondern veränderbar und politisch, sozial und kulturell in ihrem spezifischen historischen Kontext hergestellt. Zweitens sind territoriale Grenzen häufig mit politischen und mentalen Grenzziehungen gleichzusetzen, die Differenzen zwischen sozialen Gruppen oder Individuen herstellen und damit einen Prozess von Inklusion und Exklusion manifestieren – auch wenn die alltägliche Praxis diesen klaren Dichotomien häufig zuwider läuft. Und schließlich sind Grenzen Produkte von Interaktion und Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Interessengruppen und Individuen, die mittels Grenzziehungen Machtverhältnisse, Hierarchien und Differenz ausdrücken wollen. Ein Blick auf die kulturellen Aushandlungsprozesse von Grenzen, insbesondere beim Überschreiten derselben, erweist sich folglich als durchaus lohnend. Diese Prozesse sind jedoch eng damit verbunden, wie Grenzen wiederum kulturelle, politische und soziale Differenzen überhaupt erst produzieren. Dabei sind die Konstruktion und Bedeutung von Rasse und Ethnizität, von Geschlecht, Klasse, Religion und Sexualität besonders bedeutsam. Geschichte spielt eine bedeutende Rolle in diesem wechselseitigen Prozess von Herstellung und Wieder-Herstellung von Grenzen. Nicht zuletzt müssen Grenzen jedweder Form historisch legitimiert werden, um anerkannt zu sein.
Im Thementeil des vorliegenden Bandes werden Grenzen vorwiegend in ihrer diskursiven Praxis des Grenzganges untersucht; einer Praxis, die Bedeutung, Normen und Werte herstellt und immer wieder von Neuem aushandelt. Die Beiträge bewegen sich damit weg von einem Verständnis von Grenzen als rechtliche Determinanten zwischen Staaten und Territorien hin zu Fragestellungen, die mit den physischen wie metaphorischen Grenzräumen gleichermaßen umzugehen versuchen. Damit fragen sie nach den kulturellen Implikationen von physischen Grenzziehungen, die oftmals nicht deckungsgleich mit denjenigen der physischen Staatsgrenzen waren. Verhandlungen über tatsächliche und imaginierte Linien, über Prozesse und Institutionen können zeigen, wie Grenzen überhaupt erst konstruiert und zugleich, wie sie überschritten werden können. Grenzen sind nicht nur Symbole und Orte des Übergangs und Wechsels, sondern oftmals auch Akteure dieser Prozesse.
In diesem Themenheft soll das in der historischen Forschung lange Zeit vorherrschende Paradigma problematisiert werden, wonach die Moderne – gerade im Gegensatz zu den »weichen« Grenzen der Frühen Neuzeit – von starren Grenzen geprägt sei. Diese Modernisierungsannahme lässt sich hinterfragen, sobald wir den Blick weg von der »staatlichen« und obrigkeitlichen Ebene lenken. Indem wir die Grenzgänger als Akteure betrachten, die die vermeintlich festen, starren, modernen Nationalstaatsgrenzen durchschreiten, dabei auch unterlaufen und zuweilen hinterfragen. Die zentralen Fragen lauten also: wie machen Subjekte die Grenzen durchlässig, wie stellen sie sie zugleich her und was bedeutet dies für ihre Körperlichkeit.
Die einzelnen Beiträge richten dementsprechend eine besondere Aufmerksamkeit darauf, wie »Körperpolitiken« an und durch Grenzen funktionieren: Die körperlichen Wahrnehmungen, Praxis und Erfahrungen derjenigen Menschen, die Grenzen überschreiten, kontrollieren oder sie überhaupt erst hervorbringen, zeichnen sich durch zumeist asymmetrische Machtverhältnisse aus.
Um die dialektische Beziehung zwischen Grenzen und der sie prägenden physischen und menschlichen Umwelt zu untersuchen, werden die Grenzbereiche auch als »Kontaktzonen« begriffen. Die Literaturwissenschaftlerin Mary Louise Pratt hat »Kontaktzonen« als soziale Räume gefasst, in denen »cultures meet, clash, and grapple with each other, often in contexts of highly asymmetrical relations of power, such as colonialism, slavery, or their aftermaths as they are lived out in many parts of the world today«.[5] Diese Perspektive ermöglicht es, Grenzen in ihren räumlichen, zeitlichen und vor allem auch machtspezifischen Dimensionen zu historisieren. In diesem Sinne geht Lars Amenda den Vorstellungen von Grenzüberschreitung und der Körperlichkeit der Grenzgänger in Wahrnehmung und Imagination in einem konkreten lokalen Raum – den europäischen Hafenvierteln – nach. Hier trafen chinesische Seeleute und Migranten um die Jahrhundertwende auf Einheimische, wobei nicht nur räumliche, sondern auch rassisch-geschlechtlich-sexuelle Grenzziehungen eine Rolle spielten. In den Hafenvierteln ließ sich das Fremde erfahren, ohne weit reisen zu müssen. Nora Kreuzenbeck behandelt Grenzgänge einer ganz anderen Art: Sie folgt dem als schwarz bezeichneten John H. Rapier auf seiner transformativen Reise von den USA in die Karibik, bei der er nicht nur nationale Grenzen überschreitet, sondern auch rassischen Abgrenzungen und Zuschreibungen begegnet, die sich an den verschiedenen Orten unterschiedlich manifestieren. Diese bedingen die Handlungs- und Denkmöglichkeiten und positionieren Minderheitengruppen innerhalb beziehungsweise außerhalb solcher »rassifizierter« Diskurse – und verweisen damit auf die von Avtar Brah angedeuteten »realen Effekte« im Alltagsleben von Menschen. Anwen Tormey fragt danach, wie Narrative von Asylsuchenden in irischen Asylverfahren auf ihren »Wahrheitsgehalt« hin evaluiert werden. Die klassische und noch heute handlungsleitende UN-Flüchtlingskonvention von 1951 fordert den Nachweis einer berechtigten »Furcht« vor Verfolgung – einer Emotion, die sich weder von den Betroffenen leicht in eine narrative Form fassen, noch von den zuständigen Sozialarbeiterinnen und -arbeitern selbstverständlich entschlüsseln lässt. Die Reaktionen seitens der Bürokraten werden zudem oftmals durch widersprüchliche »Affekte« und emotionale Dynamiken zwischen Angst und Mitleid bestimmt. Dies führt zu der Frage, wie solche Determinanten die Grenzregime und Grenzübergänge für Asylsuchende in Europa auch zukünftig bestimmen könnten. Michael Pesek betrachtet in seinem Aufsatz die Bedeutung von Dampferpassagen nach Ostafrika. Er fragt, wie sich deutsche Passagiere – in der Begegnung mit anderen europäischen Reisenden – ihrer nationalen Zugehörigkeit gewahr wurden, und wie sie rege Wissen über Kolonien und Metropolen austauschten. Die Schiffspassage als Teil eines transnationalen Prozesses gleicht dabei einerseits einem imaginierten nationalen Raum, andererseits stellt sie das Vehikel permanenter Grenzüberschreitungen dar.
Grenzen können in diesem Sinn als Verhandlungen sozialer Praktiken und Wahrnehmungen verstanden werden, die willkürliche (oft aber gewollte) Konstruktionen sind und damit zugleich auch etwas über gesellschaftliche Stimmungen aussagen. Grenzen sind aber niemals ein bloßes Abstraktum; gerade durch die in diesem Heft betrachteten Grenzgänge werden sie beständig neu formuliert. Neben ihrer Materialität sind sie immer Teil einer konkreten Realität in den Köpfen und Lebenswelten der Menschen.
Nicht integriert werden konnte der Artikel »Warning: Border under Construction« zur US-amerikanisch/kanadischen Grenzpolitik der 1990er Jahre unseres Kollegen und Humangeographen Glen Elder (University of Vermont, USA), der für dieses Heft vorgesehen war. Glen Elder verstarb viel zu früh und unerwartet. Der Mittelteil-Beitrag liefert einen Überblick über jüngere Arbeiten zu privaten Kreditbeziehungen in Westeuropa im 18. und 19. Jahrhundert. Mischa Suter will zu einer handlungs- und praxistheoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema anregen und öffnet das bisher vornehmlich unter rein ökonomischen Gesichtspunkten bearbeitete Feld für historisch-anthropologische Untersuchungen, die das Ökonomische als soziale Praxis begreifen und erforschen. Darüber hinaus verbindet er neue informationsökonomische Anregungen mit der Kulturanthropologie wirtschaftlicher Beziehungen. Suter stellt zur Diskussion, ob und gegebenenfalls wie wissensgeschichtliche Dimensionen eine praxeologisch angeregte Sozialgeschichte des Kredits erweitern könnten.
Für unsere Filmkritik hat sich Angelika Nguyen den sowjetischen Antikriegsklassiker Die Kraniche ziehen aus dem Jahr 1957 noch einmal angesehen. In ihrer Analyse zeigt sie, wie in der Phase politischen Tauwetters hier Widersprüche sowohl im Leben Einzelner als auch in der Entwicklung des Landes meisterhaften filmsprachlichen Ausdruck fanden.

[1] Avtar Brah, Cartographies of Diaspora: Contesting Identities, 3. Aufl., London/New York 2002, S. 241.
[2] Hastings Donnan/Thomas M. Wilson, Borders: Frontiers of Identity, Nation and State, Oxford/New York 1999.
[3] Vgl. John Agnew, Borders on the Mind: Re-framing Border Thinking, in: Ethics & Global Politics 1 (2008) 4, S. 175-191, hier S. 176.
[4] John Agnew, Borders on the Mind, S. 181.
[5] Mary Louise Pratt, Arts of the Contact Zone, in: David Bartholomae/Anthony Petroksky (Hg.), Ways of Reading, 5. Aufl., New York 1999, S. 442-460, hier S. 444.

Barbara Lüthi, Miriam Rürup und die Redaktion