Editorial: Nr. 52 | grenzgänge

Seit einigen Jahren klatschen nicht nur Archivare Beifall, wenn in gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Diskussionen darauf hingewiesen wird, dass Archive vergessen sind und vergessen werden. Selten sind die Folgen dieser kollektiven Demenz so dramatisch wie an jenem 3. März 2009, als das Kölner Stadtarchiv in den unterhöhlten Boden sank. Bei der Konzeption der U-Bahn blieben das Archiv als Gebäude und die Gesamtheit seines Inhaltes unbedacht. Sie brachten sich mit aller Wucht zurück in die Erinnerung, als das Verwahrte und seine Ordnung unter einem großen Schuttberg begraben wurden. Ähnlich dramatisch machte die Öffentlichkeit Ende der 1980er-Jahre mit der Selbstzerstörungskraft von Archiven Bekanntschaft: Teile der vom Bundesarchiv in der Koblenzer Festung Ehrenbreitstein eingelagerten Nitrofilme entzündeten sich. Zur Folge hatte dies einen „Zerstörungsauftrag“ an die Archivare: Sobald die Nitrofilme auf weniger explosives Material umkopiert waren, mussten die Originale vernichtet werden.
Doch die Mechanismen von Zerstörung und Selbstzerstörung, welche man mit dem Titel archive vergessen zunächst in Verbindung bringt, sind nur ein erster Schritt. Andere Prozesse, die im und durch das Archiv ablaufen, gehen weit darüber hinaus und gestalten sich zugleich weniger spektakulär. Es sind dies Vorgänge des Vergessens, die sich innerhalb der archivalischen Wissensverwaltung selbst vollziehen: In den alltäglichen Abläufen von Auswahl und Kassation wird Wissen einerseits als unbrauchbar klassifiziert und damit zum Abfall erklärt. Andererseits wird erst dadurch das im Archiv abgelegte Wissen stabilisiert, werden Aufbewahrung, Auffinden und Nutzung ermöglicht. Dass das Vergessen auch als eine gestaltende und mächtige Kraft der Erinnerung angesehen werden muss, verdeutlichen die vorliegenden Beiträge für verschiedene Archivräume und verschiedene Stadien der Archivarbeit.
Am Beispiel dreier Archive und ihrer konkreten, diskursiv geformten und metaphorisch umschriebenen Räume (Magazin, Lesesaal, Verschluss- bzw. Sperrzelle) wird für eine neue Sichtweise auf das Archiv und das darin Verwahrte bzw. Vergessene geworben: Die Kennzeichen des Wissensspeichers Archiv – Auswahl, Konservierung, Zugänglichkeit – führen hier jeweils zum Vergessen als der unvermeidlichen, zumeist unsichtbar bleibenden Seite des Erinnerns. Elena Esposito weist in ihrem Kommentar zu den einzelnen Beiträgen explizit darauf hin, dass das Vergessen weit weniger den Katastrophenfall darstellt als die Normalität des Archivs: Das Vergessen, so Esposito, ist der notwendige „blinde Fleck“ des im Archiv institutionalisierten kollektiven Gedächtnisses.
Das uns hier beschäftigende Paradoxon, dass Archiv und Vergessen, Speicherung und Verlust zusammengehören, ist nur schwer zu greifen. Vielleicht ist darin der Grund zu sehen, warum die Gedächtnisforschung meist „Erinnerung“ als Paradigma versteht, nicht jedoch „Erinnerung und Vergessen“ oder auch „Archiv und Vergessen“. Dabei thematisierte insbesondere die kulturwissenschaftliche Forschung bereits ein Vergessen mit konstitutiver Rolle für das Erinnern: Ohne Vergessen ist Erinnerung unmöglich, beide greifen komplementär ineinander. Auch dass das Vergessen erst die produktive Ermöglichung von Erinnerung sei und für diese entlastende Funktionen hat, ist bereits hervorgehoben worden: Von der Gedächtnisforschung wurde breit beschrieben, wie unerwünschte Erinnerungen durch Vergegenständlichung (etwa in Denkmälern) oder durch Prozesse der Tabuisierung distanziert, also vergessen werden können.
Bislang kaum untersucht wurde dagegen, inwiefern eine ausgesprochene Institution des Erinnerns, wie es das Archiv ist, Vergessen erlaubt, ja sogar erzwingt. Das Ziel dieses Themenheftes ist es, Archive nicht nur in ihrer Funktion als Wissensspeicher wahrzunehmen, sondern den Blick auch auf die ihnen innewohnenden Prozesse des Vergessens zu richten. Für alle Beiträge ist dabei die Frage zentral, wie sich die jeweils beschriebenen Aufbewahrungs- und Sammlungspraktiken auch als Herrschaftspraktiken fassen lassen. Verschiedene Dimensionen des Vergessens, die im und durch das Archiv stattfinden, werden dazu auf ihre politische und gesellschaftliche Bedeutung hin befragt. Die einzelnen Beiträge richten sich in je unterschiedlicher Weise auf die im Archiv institutionell verankerten Machtstrukturen: Bei Julia Herzberg wird Vergessen als Aussetzen des Gebrauchs untersucht, bei Christine Hikel als Versuch, Erinnerung zu homogenisieren, bei Anne Barnert wird Vergessen als Unzugänglichkeit von Archivmaterial behandelt. Indem in jedem dieser drei Fälle eine archivalische Ordnung geschaffen und bewahrt wird, entstehen zugleich Strukturen, welche gesellschaftliche Wertsetzungen und Relevanzen festlegen: Die Ordnungsschemata bestimmen mithin „das Gesetz dessen, was gesagt werden kann.“
In solche Lücken des Archivs ist bisher nur spärlich hineingeleuchtet worden. Zwar setzte sich die Ansicht, dass Archive nicht „organisch gewachsen“ sind, sondern durch die Konstruktionsarbeit des Archivars geschaffen werden, in den Geschichts- und Kulturwissenschaften schon seit dem Zweiten Weltkrieg durch. Dennoch wurden konkrete Sammlungs- und Archivierungspraktiken in die Überlegungen selten einbezogen. In den letzten Jahren ist ein Umschwung erkennbar. Vorreiter waren hier die postcolonial studies, die fragten, wie Subalterne in den Archiven repräsentiert sind, welche Rolle die Archive bei der Herstellung von Wissen und bei der Aushandlung von Machtverhältnissen spielen. In Deutschland entstanden Forschungsverbünde wie das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft getragene Bielefelder Graduiertenkolleg Archiv Macht Wissen, dessen Mitglieder Archive als Wissenskonstruktionen hinterfragten und Archiv-Praktiken in den Mittelpunkt ihrer Forschungen stellten. In diesem Kontext sind die Beiträge des Themenheftes entstanden. Sie wurden erstmals auf der Tagung „ARCHIVE VERGESSEN – Räume des Verlusts“ im Januar 2009 in Bielefeld vorgestellt. Für die nun vorliegenden Fassungen wurden die Vorträge erheblich erweitert und ergänzt und sollen neben einem Einblick in die Forschungsarbeiten des Graduiertenkollegs das vergessene „Vergessen“ in Erinnerung bringen.
Den Mittelteil des Heftes eröffnen wir mit einem Beitrag von Eckart Schörle zur Open-Access-Debatte in den Geisteswissenschaften, d.h. zu der derzeit kontrovers diskutierten Frage nach der freien Zugänglichkeit zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Schörle zeigt zentrale Hintergründe und Aspekte der Debatte in Deutschland auf und diskutiert Chancen, Auswirkungen und Probleme des Open-Access-Publikationsmodells im Kontext von Wissenschaftskulturen und Urheberrechtsdebatten. Wir möchten mit diesem Beitrag einen ersten Einblick in eine Thematik geben, die wissenschaftliches Arbeiten radikal verändern wird. Wir werden diesem Auftakttext sowohl auf werkstattgeschichte.de als auch in unserer gedruckten Ausgabe weitere Beiträge folgen lassen, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage auseinandersetzen, was open access für die geschichtswissenschaftliche Praxis bedeutet.
Miriam Rürup hat sich für unsere Filmkritik einen Klassiker angeschaut: Den letzten Film des Komikerduos Stanley Laurel und Oliver Hardy – Atoll K. von 1951. Die Thematik und politische Aussage des Films sieht sie um eine zentrale rhetorische und reelle Figur gruppiert – der Staatenlosigkeit und dem Staatenlosen als Sinnbild Europas im 20. Jahrhundert. Von der Figur des Staatenlosen ausgehend, verhandelt der Film sowohl die existentiellen gesellschaftlichen Fragen der internationalen Staatengemeinschaft nach 1945 – die atomare Bedrohung, die Konstruktion staatlicher Zugehörigkeiten und die Frage nach einer friedfertigen und glücklich machenden Staatsform – wie auch die Nöte der Akteure in der modernen Welt.
Annika Wellmann bespricht die Ausstellung „Horrible Histories: Terrible Trenches“ im Imperial War Museum in London. Die Ausstellung reiht sich in neuere Forschungs- und Ausstellungsaktivitäten ein, die Erfahrungen und Lebensbedingungen von Soldaten im Krieg thematisieren. Die Londoner Ausstellung fokussiert auf den Alltag in den Schützengräben der Westfront im Ersten Weltkrieg, auf Lebensbedingungen, Kampfhandlungen, Wünsche, Hoffnungen und Bedürfnisse von deutschen und britischen Soldaten. Die Geschichtsvermittlung der Ausstellung, die sich an Besucher und Besucherinnen aller Altersstufen richtet, ist durch den Einsatz von Cartoons und Zeichentrickfilmen und einer Ratte, die – omnipräsent im Alltag der Schützengräben – als allwissende Erzählerin durch die Ausstellung führt, geprägt.

Anne Barnert, Julia Herzberg, Christine Hikel und die Redaktion