Editorial: Nr. 50 | fünfzig!

Collage Foto: Joachim Tornau

Nein, WERKSTATTGESCHICHTE wird nicht 50 Jahre alt. Auch wenn das Titelblatt anderes suggerieren mag, so möchten wir mit diesem Heft keineswegs weiterwerkeln an der sich in den letzten Jahren immer schneller drehenden Spirale mediengerechter Jubiläumsfeiern – ganz im Gegenteil. Vielmehr geht es uns um eine historische Dekonstruktion eben dieser zeitgenössischen Fixierung auf Zahlen, zumal auf runde, also um eine kritische Evaluation des immer deutlicher zutage tretenden numerative turn in der Geschichtswissenschaft. Unser Ziel ist es, sowohl die operative Reichweite als auch die analytische Tiefenschärfe dieses neuen, bislang kaum beachteten methodischen Zugangs auszuloten, und zwar auf der Basis breit gestreuter historischer Fallstudien.
Zunächst führt uns Herbert Mehrtens in die Welt der Mathematik und die Geschichte der Zahlensysteme ein, wodurch wir gelernt haben, dass wir vielleicht mit unserem besonderen Heft lieber bis zur 60 hätten warten sollen.
Der Bedeutung der Zahl 50 im globalen Kontext geht Christine von Oertzen am Beispiel einer Jubiläumsfeier der International Federation of University Women nach. Sie zeigt dabei, in welch hohem Maße der jeweilige politisch-kulturelle Hintergrund den Rückblick auf vergangene 50 Jahre präjudiziert und ihn damit gleichzeitig zum Gegenstand transnationaler Aushandlungsprozesse macht. Während sie also bewusst eine 50-Jahres-Feier in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung rückt, wird dieser Zeitsprung von Andreas Ludwig erst kreiert: Der kühne Blick zurück über 50 Jahre verminte Geschichte eines untergegangenen Staates erlaubt es ihm, die Chemiekonferenz der DDR als symbolpolitisches Ereignis herauszupräparieren, durch das sich der Traum einer sozialistischen Moderne in Gestalt der flächendeckenden Plastifizierung der DDR manifestierte.
Dient in diesen beiden Beiträgen explizit die 50 als Analyseinstrument, so wagen Stefanie Schüler-Springorum und Frank Lipschik den Sprung nach vorn bzw. zurück und nutzen das methodische Potenzial der bislang häufig vernachlässigten 51 bzw. 49, um neue Wege in der historischen Gedächtnisforschung anzuregen. Am Beispiel der jüngst wieder aufgeflammten
Diskussion um die Aufnahme der Karibikinsel Puerto Rico als 51. Staat der USA kann Stefanie Schüler-Springorum nachweisen, dass es durchaus plausible Gründe dafür gibt, warum sich im kulturellen Gedächtnis mancher Kolonialisierter der Erhalt des Status Quo 50 als das weitaus attraktivere Ziel eingeschrieben hat. Eher um das kommunikative Gedächtnis geht es dagegen bei Frank Lipschik, der anhand einer kurzen Geschichte des Zahlenlottos belegt, dass es nicht das Erinnern, sondern das Vergessen ist, das die Menschen seit über zweihundert Jahren dazu bringt, wider besseren Wissens um die geringen Chancen ihr Geld dem Glücksspiel anzuvertrauen – aller volkspädagogisch-bürgerlichen Kritik zum Trotz.
Mag man diese Beharrlichkeit auch als Eigensinn jener »kleinen Leute« interpretieren, die das große Glücksversprechen der Moderne entgegen aller historischen Evidenz immer noch ernst nehmen, so widmen sich Marc Czichy, Alf Lüdtke und Tilmann Siebeneichner in ihrem (den Thementeil abschließenden) Beitrag den Fällen des »kleinen Glücks«, den kleinen Jubiläen am Arbeitsplatz, die aus biographisch einleuchtenden Gründen noch nicht einmal die 50 und nur selten die 40 erreichen, weshalb oftmals entweder diese 40 oder gar nur die 25 als »falscher Fuffziger« gefeiert wird. Der flexible Umgang mit der Zahl 50 in der gesellschaftlichen Praxis des Feierns macht hier den Weg frei zu einer vergleichenden Untersuchung zweier Arbeitsjubiläen, die gleichzeitig auf eindrucksvolle Weise die Bedeutung der Photographie als historische Quelle untermauert, auch und gerade in Zeiten des numerative turn.
Unser Thementeil dokumentiert eindrucksvoll, dass wir die Zahlen (und ganz besonders die 50!) nicht der mediengerechten, unkritischen public history überlassen müssen. Wird der numerative turn nicht unreflektiert fortgeschrieben, sondern kritisch gewendet, dann eröffnet er der Geschichtsschreibung ganz neue Perspektiven. Er bereichert sowohl modernisierungs- als auch gedächtnistheoretische Ansätze, erdet transnationale, global- und kolonialgeschichtliche Studien. Auch aus diesem Grund ist der Mittelteil diesmal der Kulturgeschichte im engeren Sinne gewidmet, nämlich unserer eigenen. Alle Beiträge reflektieren die Bedeutung einer einst »alternativ« genannten Geschichtsschreibung für die historiographische Kultur der Bundesrepublik bzw. des vereinten Deutschlands, wobei es vor allem darum geht, dem eigenen professionellen Tun einen übergeordneten Sinn zu verleihen: Adelheid von Saldern rekonstruiert den langsamen Etablierungsprozess der Alltagsgeschichte in der deutschen akademischen Welt, während Alexander von Plato auf die Ambivalenz dieses Prozesses am Beispiel der Biographie von Michael Zimmermann verweist. Michael Wildt erinnert an die zweite Front dieser Kämpfe um gesellschaftliche Akzeptanz, die lange Zeit die erste war: nämlich an die harten Konflikte, die die Professionalisierungsschübe innerhalb unserer eigenen Zeitschrift auslösten. Axel Doßmann schließlich bereichert diese westdeutsche Nabelschau um den so dringend benötigten Blick von »außen«, genauer gesagt aus dem Osten, indem er seine Annäherung an das Projekt WERKSTATTGESCHICHTE als Teil einer deutsch-deutschen Beziehungs- und autobiographischen Alltagsgeschichte beschreibt.
Aus gegebenem Anlass haben wir in diesem Heft auf einen aktuellen Rezensionsteil verzichtet und stattdessen darüber nachgedacht, welche 50 Romane, Spiel- und Dokumentarfilme, Zitate und Ereignisse unser historisches Arbeiten beeinflusst haben: Was hat uns ganz unerwartet die Augen geöffnet, womit erzielen wir in der Lehre besondere Erfolge, wem wünschen wir ein größeres Publikum, und was kann selbst hartgesottenen HistorikerInnen einmal richtig Spaß machen? Die Zusammenstellung dieser Listen hat uns viel Freude bereitet, nicht zuletzt aufgrund des Zuspruchs jener, die die Werkstatt weiterhin als gemeinsames Projekt begreifen. Und so finden sich am Ende des Heftes unsere fünf mal 50 historischen Lieblinge – natürlich, wie es sich gehört, nicht hierarchisiert, sondern in bunter Mischung, mal ausführlich erläutert, mal kurz und mal gar nicht. Das Titelbild besteht aus 50er Zahlen, die uns im (Redaktions-)Alltag begegneten. Zu ihrer »Entschlüsselung« finden sie sich im Heftinneren verstreut wieder. Wir wünschen viel Vergnügen beim Stöbern und Lesen und danken Allen, die uns bei der Zusammenstellung unterstützt haben.
Und übrigens: Dies ist das 50. Heft von WERKSTATTGESCHICHTE!

Marie Luisa Allemeyer,  
Wiebke Kolbe,  
Miriam Rürup,  
Stefanie Schüler-Springorum,  
Ulrike Weckel