Editorial: Nr. 43 | empire is coming home

Historikerinnen und Historiker haben sich in den vergangenen Jahren in steigendem Maße mit der Geschichte des Kolonialismus und seinen Langzeitwirkungen sowohl für die kolonisierten, als auch für die kolonisierenden Gesellschaften beschäftigt. Diese Entwicklung hat eine Fülle von Gründen, nicht zuletzt dürfte es sich um den Versuch handeln, sich in der Gegenwart der »Globalisierung« durch eine neue Aneignung und Deutung der Geschichte transnationaler Phänomene zu orientieren.
Mit dem Themenheft »Empire is coming home« widmet sich nun WERKSTATTGESCHICHTE der (Wirkungs-)Geschichte des Kolonialismus. Wir wollen dies in einer spezifischen Perspektive tun, die uns in der Forschung derzeit noch unterrepräsentiert zu sein scheint. Dass die europäischen Gesellschaften aus ihren Kolonien nicht nur materielle Güter, sondern auch politische oder militärische Erfahrungen/Konzepte sowie kulturelle Praktiken importierten, ist keine neue Erkenntnis. Spätestens seit der Aufklärung bedient sich jede von Europäern formulierte Weltanschauung und jeder europäische Lebensstil zumindest einiger von der kolonialen Peripherie importierter Ideen, Symbole und häufig: Phantasien.
Relativ wenig aber wissen wir über die Wege und Akteure dieser Transferprozesse. Erfahrungen aber wandern nicht von selbst, sondern sie tun dies in der Regel im Gepäck konkreter Menschen, die sich zwischen zwei Orten – hier: zwischen Europa und seinen Kolonien – hin- und herbewegen. Dieses Themenheft folgt daher den Spuren von Akteuren, die in den Kolonien Erfahrungen gemacht hatten und diese nun in ihre »Mutterländer« re-importierten. Die Beiträge versuchen jeweils, die Wege dieses Transfers zu rekonstruieren und seine Wirkungen auf die europäischen Gesellschaften zu vermessen und zu erklären. So rekonstruiert Dominik Collet die Versuche der britischen Royal Society am Ende des 17. Jahrhunderts, durch den Import von naturkundlichen Sammelobjekten ein vermeintlich authentisches Bild der außereuropäischen Welt zu gewinnen. Die in den Kolonien lebenden Korrespondenzpartner der Society allerdings machten dieses Anliegen durch die Auswahl der von ihnen nach London verschickten Objekte zunichte, indem sie aus ihrer Sicht »heikle« Dinge zurückhielten und sich an jenem Kanon vermeintlich für die koloniale Welt repräsentativer Objekte orientierten, den die europäische Reiseliteratur längst etabliert hatte.
Der britische General Lord Kitchener steht im Zentrum des Beitrages von Patrick Wagner. Anhand des um 1900 ungemein populären Kitchener, der das vermeintlich wankende Empire auf mehreren kolonialen Kriegsschauplätzen mittels entgrenzter Gewalt und einer Lösung des Militärs vom Primat der Politik gerettet zu haben schien, diskutierte die heimische Öffentlichkeit, ob der Re-Import dieser Konzepte nicht auch die britischen Inseln selbst aus ihrer »Edwardianischen Krise« befreien könnte.
Birthe Kundrus unterzieht die aktuellen Versuche, die nationalsozialistische Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa als Transfer bis 1918 in den afrikanischen Kolonien gemachter Herrschafts- und Gewalterfahrungen zu deuten, einer kritischen Revision. Sie problematisiert den Gebrauch von Termini wie »Kontinuität«, »Transfer« oder »Tradition« und betont, dass es sich bei den meisten Rekursen der Nationalsozialisten auf koloniale Vorbilder um »Wunschbilder und Phantasmen« handelte, die den Besatzern Osteuropas als Orientierung in einer neuen Situation dienten.
Elsbeth Locher-Scholten thematisiert die Aneignung kolonialer Erfahrungen durch die niederländische Gesellschaft nach 1945, indem sie die Integration der aus Niederländisch-Indien (= Indonesien) nach dessen Unabhängigkeit »Heimkehrenden« untersucht. Vor allem die Erfahrungen jener Heimkehrer, die mit ihrer Geschichte für den blutigen Kolonialkrieg gegen die indonesische Unabhängigkeitsbewegung standen, erwiesen sich über Jahrzehnte als sperrig für eine Gesellschaft, die sich selbst als moralisches Vorbild für die Welt sehen wollte.

Die Online-Enzyklopädie Wikipedia, die die Sammlung des »Weltwissens« anstrebt, ist, fünf Jahre nach ihrer Gründung, zum einflussreichsten globalen Internetprojekt auf dem Gebiet der Wissensvermittlung geworden. Damit verbunden ist, so Maren Lorenz in ihrem Beitrag im Mittelteils unseres Hefts, ein mittel- und langfristiger Wandel der Wissensgenese und Wissensrezeption an Universitäten, Schulen und in der Medienwelt, dessen Probleme, Chancen und Herausforderungen bisher kaum thematisiert worden sind. Im Sinne einer klassischen Quellenkritik konzentriert sich Lorenz in ihrer Analyse des »heimlichen Leitmediums« auf dessen Entstehungs- und ökonomische Rahmenbedingungen, um die Bedeutung der verschiedenen »Wikipedias« in unserer gegenwärtigen und zukünftigen Wissenslandschaft abschätzen zu können.
Mit Michael Sturms Beitrag zur Geschichte der Verwendung des Polizeischlagstocks vom Kaiserreich bis in die Gegenwart führen wir eine Diskussion um Praktiken von Gewalt und deren Legitimierung und De-Legitimierung fort, die wir fokussiert im Themenheft »Gewalt« 2003 begonnen haben. Michael Sturm geht hier der These nach, dass sich die polizeilichen Gewaltpraktiken im Laufe der Jahrzehnte zwar verändert haben, dass dies aber keineswegs mit einer Reduzierung polizeilicher physischer Gewalt gleichzusetzen sei.
»Die Legende von Paul und Paula« ist wohl der populärste Film der DEFA, und populär ist der Film vor allem wegen seiner legendären Liebesgeschichte zwischen Paula, der einfachen Arbeiterin und jungen, unverheirateten Mutter und Paul, dem unglücklich verheirateten sozialen Aufsteiger. Stephanie Warnke rekonstruiert in ihrer Analyse des Films die Verwendung gegensätzlicher Architekturen als Symbole für persönliche Haltungen und soziale Veränderungen. Und sie erschließt damit eine Bedeutungsebene des Films, in der Paulas Tod ebenso unausweichlich ist wie der Abriss ganzer historischer Stadtviertel in Ost-Berlin.

Patrick Wagner, Franz-Josef Brüggemeier und die Redaktion