Editorial: Nr. 42 | diebe!

Während der so genannten Chaostage im August 1995 hatten sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen in einem Hannoveraner Supermarkt mit Lebensmitteln versorgt, ohne den Gegenwert der Ware im Geschäft zu hinterlegen. Sie – und delikaterweise auch einige Anwohner, die die Gunst der Stunde nutzten – machten sich dadurch juristisch gesehen des Diebstahls schuldig. Ein Foto des geplünderten Supermarktes mit der Bildunterschrift »bargeldlos einkaufen« fand in der Folgezeit Verwendung auf verschiedenen Plakaten, die zur Teilnahme an unterschiedlichen linken Veranstaltungen aufriefen. Dieser Slogan warb ursprünglich für die verstärkte Nutzung von ec- und Kreditkarten. Seine Herauslösung aus dem ehemaligen Bedeutungszusammenhang und seine hier beschriebene Verwendung illustrieren auf ironisch-provokative Weise die Tatsache, dass »Diebstahl« ebenso wie »Erwerb« und »Eigentum« Konzepte sind, die in jeder Gesellschaft verhandelt und definiert werden müssen. Die gegenwärtigen Auseinandersetzungen um geistiges oder genetisches Eigentum führen ebenfalls vor Augen, dass allgemein gesetzten und gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptierten Definitionen Aushandlungsprozesse vorausgehen. Jede Gesellschaft kreiert und kanonisiert nicht nur bestimmte Werte, sondern auch deren Gegenstück, das als deviant angesehene Verhalten.
Verkürzt gesagt, definiert sich eine Gesellschaft daher also auch auch darüber, wen sie als Dieb betrachtet und behandelt. Die gesellschaftliche Konstruktion von Diebstahl ist Gegenstand ständiger sozialer Aushandlungsprozesse. Sie unterliegt einerseits historischem Wandel. Andererseits können aber auch miteinander konkurrierende Konzepte zeitgleich nebeneinander existieren, wie es das eingangs erwähnte Beispiel humorvoll zum Ausdruck bringt. Die Untersuchung eines zu einem bestimmten Zeitpunkt von einer spezifischen bestimmten Gesellschaft als deviant definierten Verhaltens kann daher Einblicke in diese Gesellschaft gewähren, konkurrierende Ordnungsentwürfe erkennbar machen und ggf. Konfliktlinien und Veränderungen aufzeigen.
Mit eben dieser Thematik befassen sich die in diesem Heft zusammengestellten Beiträge. Sie setzen sich mit der sozialen Praxis von Diebstahl auseinander, in der sich Konstruktion und Selbstdeutung der Akteure begegnen. Dabei wird u.a. gefragt, welches Bild von »Dieben« hergestellt und tradiert wurde. Wie ging man mit ihnen um? Oder andersherum gefragt: Wer waren die Diebe eigentlich? Was und warum stahlen sie? Welchen Einfluss hatten drohende und verhängte Strafmaßnahmen auf ihr Verhalten? Und welchen Einfluss hatten die Diebstähle auf Veränderungen in der Gesetzgebung und damit auf das Rechtsverständnis, das sich die Gesellschaft geben wollte?
Andrea Griesebner untersucht Diebstahlsprozesse, die im Laufe des 18. Jahrhunderts vor dem im heutigen Niederösterreich gelegenen Landgericht Perchtoldsdorf verhandelt wurden. Als Ausgangspunkt ihrer quellennahen Rekonstruktion von Strafnorm und Gerichtspraxis wählt sie die Frage nach den Kontexten des Diebstahls: Wie kamen die Diebstahlsfälle vor Gericht, was haben die Männer, Frauen und Kinder gestohlen und wie wurde die landgerichtliche Verurteilung durch die Mitglieder des Gerichts legitimiert? Als eines der wichtigsten Ergebnisse zeigt sich hier, dass die ortsfremden Diebe und Diebinnen mit größerer Wahrscheinlichkeit und mit härteren Strafen verurteilt wurden als die einheimischen.
Auch Rebekka Habermas widmet sich den kleinen und alltäglichen Diebstahlsdelikten. Sie verknüpft die gerichtliche Verhandlung des Diebstahls mit der Entstehung des modernen Rechtsstaates und kann damit die Verschränkung von Kriminalitäts- und Rechts-, Erfahrungs- und Diskursgeschichte deutlich machen. Am Beispiel des ländlichen Kurhessens stellt sie die im 19. Jahrhundert in großem Umfang aktenkundig gewordenen Eigentumsdelikte zum einen mit der Entstehung einer neuen Eigentumsordnung, zum anderen mit sich verändernden Ehrvorstellungen in Zusammenhang.
Den Sprung ins 20. Jahrhundert vollzieht Paul Lerner. Mit dem Zeitalter des Massenkonsums und dem Aufkommen moderner Warenhäuser entsteht auch eine neue Form des Diebstahls: die Kleptomanie. Hier sind es nicht die Unterschichten, die sich fremdes Eigentum aneignen, sondern Angehörige der Oberschicht, die durch das Stehlen mehr oder weniger bedeutsamer Dinge die Gesellschaft irritieren. Die zeitgenössische Medizin sah in erster Linie Frauen von der Kleptomanie bedroht. Während bislang eher geschlechtergeschichtliche Fragen im Vordergrund standen, wagt Paul Lerner eine neue Verknüpfung von Diebstahl mit Massenkonsum, Psychologie und Antisemitismus. Sein Hauptaugenmerk legt er auf die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik.
Eine Zeit des Umbruchs und der Ungewissheit nimmt Stefan Mörchen in den Blick. Am Beispiel Bremens untersucht er die komplexen Vorgänge in der Zeit des Schwarzmarkt-Handels in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs am Beispiel Bremens. Obgleich die Auflösung bürgerlicher Eigentumsvorstellungen in breiten Bevölkerungsschichten beobachtet werden kann, wurde Problem des Diebstahls dennoch weiterhin bestimmten sozialen Gruppen zugeschrieben und so aus der Mitte der Gesellschaft herausgedrängt. Mörchen beobachtet aber nicht nur die Kontinuität von stereotypen Zuschreibungen in der Bevölkerung, sondern weist diese auch in der kriminalistischen Theorie jener Jahre nach.

Der Werkstatt-Artikel von Sandra Maß befasst sich mit der Ausbildung deutscher Entwicklungshelfer und -helferinnen in den 1960er Jahren. Differenziert geht die Autorin den unterschiedlichen Vorstellungen der deutschen Entwicklungshilfe nach. Ihr gelingt ein Einblick in die Institutionen und deren Leitbilder, die sich in der propagierten und eingeforderten Figur des Entwicklungshelfers niederschlugen.

Silvan Niedermeier berichtet schließlich über die Ergebnisse der Hamburger Tagung »Gewalt, Ordnung und Staatlichkeit« (März 2006), die eine interdisziplinäre Annäherung an das sich wandelnde Verhältnis von Gewalt und Staatlichkeit anstrebte. Thematisiert wurden die Anwendung innerstaatlicher Gewalt und die unterschiedlichen Gewalthandlungen Krieg führender Akteure, aber auch aktuelle Fragen nach den Rechtfertigungen von Folter und Todesstrafe. Ein zentrales Interesse der Tagung bestand in der stärkeren Berücksichtigung des Rückwirkens von Gewalt auf die staatliche Ordnung.

In der Expokritik stellt Joachim Baur das 2005 eröffnete Deutsche Auswandererhaus in Bremerhaven vor. Es ist Teil einer Entwicklung, in der Migration zunehmend Gegenstand der Musealisierung wird. Bauer diskutiert in seinem Beitrag, inwieweit die inhaltliche Konzeption und die Inszenierung der Ausstellung einem differenzierten und kritischen Umgang mit dem Themenfeld Migration gerecht werden.

Die Redaktion