Als im Jahre 1992 das erste Heft von WERKSTATTGESCHICHTE erschien – das Thema hieß »Alltäglicher Stalinismus« – war die heftige Feindseligkeit, die den Vertretern der Alltagsgeschichte insbesondere von den führenden Repräsentanten der Sozialgeschichte Bielefelder Prägung entgegengeschlagen war, längst einem vorsichtigen Dialog gewichen. Wenn wir nunmehr 25 Jahre nach dem Erscheinen des programmatischen Artikels von Lutz Niethammer dieses Heft »Alltagsgeschichte transnational« vorlegen, so geht es uns nicht darum, eine deutsche Erfolgsgeschichte der Alltagsgeschichte zu schreiben.
Zum einen lagen die Anfänge einer akteurszentrierten Geschichtsschreibung, die Erfahrung als zentrale Kategorie einführte, wie Adelheid von Saldern deutlich macht, im angloamerikanischen, und wir fügen hinzu, auch im französischen Forschungskontext. Ähnlich wie es Dong-Ki Lee und You Jae Lee für Korea beschreiben, waren es einzelne deutsche jüngere Historiker, die über Forschungsaufenthalte und Kontakte in England, USA und Frankreich als Mittler und ‚Übersetzer’ auftraten. Zum anderen aber entstehen offenbar in anderen Wissenschaftssystemen andere Gemengelagen, aus denen Alltagsgeschichte sich speist und entwickelt hat.
Adelheid von Saldern geht in ihrer tour d’horizon der Frage nach, warum sich die Vertreter der universitären Geschichtsschreibung gegenüber neuen Forschungsrichtungen in der Vergangenheit mit schärfster Kritik abgeschottet haben. Sie verweist auf die Bedeutung der transnationalen Kommunikation und Vernetzung, die dieser Abschottung entgegengewirkt haben und das auch noch tun. Sie plädiert für eine »radikale Pluralität«, gegen jeden Wissenschaftsimperialismus. Das bedeutet eine Absage an jede Eindeutigkeit. Alltagsgeschichte steht, so auch das Programm dieser Zeitschrift, für das Disparate, für das Assoziative und das Zulassen von Mehrdeutigkeiten in der Begriffsbildung.
Die Entscheidung, dieser deutschen Besichtigung der Alltagsgeschichte, Beiträge aus Korea und Polen, also aus höchst unterschiedlichen nationalen Kontexten gegenüberzustellen, mag verwundern. Noch mehr aber irritieren die Befunde der Autorinnen und Autoren. Gerade im fernen Land Korea ist offenbar eine passgenaue Entsprechung der deutschen Situation entstanden. Es entbehrt nicht einer gewissen Komik, dass durch die Transferleistungen von »Schülern« von Repräsentanten sowohl der Alltags- wie der Sozialgeschichte auch der alte Streit exportiert wurde. Die speziellen deutsch-koreanischen Beziehungen und deren problematische Relation zum US-amerikanischen Einfluss konturiert eine spezifische Rezeption, die nur auf dem Hintergrund der Erfahrungen des Krieges und der Spaltung des Landes zu verstehen ist. Aus dieser Gemengelage von historischer Erfahrung und politischem Engagement entwickeln sich Forschungsfragen und -interessen, die der deutschen Situation sehr ähnlich sind. Nicht ohne Bedeutung scheint auch hier die Perspektive von Lee/Lee zu sein, die selber als koreanische Forscher in Deutschland berichten.
Mit Polen haben wir es ganz offensichtlich mit einer ganz anderen Entwicklungslinie zu tun: die Orientierung an der französischen Annales-Tradition. Nun ist es nicht weiter verwunderlich, dass polnische Historiker, ob marxistisch oder nicht, sich eher von der französischen als von der deutschen Entwicklung, wenn sie nach Westen schaute, beeinflussen ließen. Herausgekommen ist dabei offensichtlich jene Hybridisierung aus Annales-Tradition und teils affirmativer, teil kritischer Sozialgeschichte mit nationalgeschichtlichem Einschlag, wie ihn Anna Gabrys und Adriana Hermann schildern. Man mag gespannt sein, wie sich die Alltagsgeschichtsschreibung in Polen weiterentwickeln wird: Offenbar scheinen gerade die Integration von Erfahrungen, die Pluralität als Konzept bedingen, immer noch umstritten zu sein, was sich nicht zuletzt daran zeigt, dass Methoden wie die oral history in dem konfliktgeladenen Feld deutsch-polnischer Geschichte besonders relevant werden. Auch hier allerdings scheinen transnationale Netze von großer Bedeutung zu sein.
Im Mittelteil untersucht Elizabeth Heineman den »Mythos Beate Uhse« in der deutschen Nachkriegszeit. Heineman verknüpft divergierende autobiographische Erzählungen Beate Uhses mit drei konkreten Orten, an denen der Mythos konstruiert wurde: das Marketing, der Gerichtssaal und die Medien. Der zentrale Begriff hier ist Respektabilität. Denn Respektabilität musste Uhse an unterschiedlichen Orten und Kontexten immer wieder neu behaupten, um ökonomisch erfolgreich und gesellschaftlich anerkannt zu sein.
Geoff Eley analysiert in seinem Beitrag historiographische Ansätze und Akzentverschiebungen in den Forschungen zum Nationalsozialismus, die sich dem Problem stellen müssen, eine adäquate Begrifflichkeit für die Mittäterschaft der Deutschen an der Gewalt des nationalsozialistischen Regimes zu finden. Eley argumentiert auf der Grundlage der Lektüre von Michaels Wildts Buch Generation des Unbedingten: Das Führerkorps des Reichssicherheitshauptamtes dafür, die nationalsozialistische Ideologie wieder in das Zentrum der Forschung zu rücken.
In der Rubrik Filmkritik plädiert Ralph Poole dafür, Günee Yolculuk (Journey to the Sun) als Liebesfilm, Roadmovie und hochaktuelles Politkino gleichermaßen zu verstehen. Er analysiert den weiblichen Blick der türkischen Regisseurin Yesim Ustaolu auf die heikle Kurdenfrage, die türkische Arabesk-Kultur und das Migrantenleben in Istanbul.
Thomas Lindenberger, Inge Marszolek, Dorothee Wierling und die Redaktion