„Whiteness“, so argumentiert der US-amerikanische Historiker George Lipsitz, ist zweierlei. Zum einen ist es eine Täuschung, ohne Grundlage in Biologie oder (physischer) Anthropologie. Zum anderen aber ist „whiteness“ eine folgenreiche soziale Tatsache, spürbar in der Verteilung von Macht, Prestige und Reichtum.[1] Fragen nach „whiteness“ stehen für einen neuen Akzent in der historischen Forschung vor allem in den USA. Maßgebliche Anstöße hat David Roediger gegeben, dem in seinen Untersuchungen zur Durchsetzung von Lohnarbeit spezifische „wages of whiteness“ aufgefallen waren.[2] Gemeint sind Ansprüche wie Praktiken, eine „weiße“ Identität als ökonomischen Vorteil zu reklamieren und durchzusetzen. Damit werden Wahrnehmungen und Verhaltensweisen zum Thema, die in bisherigen Konzepten unscharf bleiben, wenn nicht ignoriert werden. „How the Irish Became White“: In dieser Studie über irische Einwanderer in die USA im 19. Jahrhundert zeigt Noël Ignatiev, wie sehr die „weißen“ US-Amerikaner ihr „Weißsein“ bei der rigorosen Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen betonten – die sich ihrerseits als „Weiße“ sahen.[3] Deutlich wird aber zugleich, wie zäh die scheinbar Machtlosen den Zugang zum „weißen“ Establishment erzwangen, auf welche Weise sie sich „weiß machten“.
Geht es bei sozialer Ungleichheit und „Klasse“ um unterschiedliche Erwerbschancen, um die Verfügung über Produktionsmittel und Arbeitsresultate, wendet sich mit „whiteness“ der Blick nun auf Privilegierungsstrategien gerade auch unter denjenigen, die als ökonomisch Ausgebeutete oder sozial Ausgeschlossene dieselbe soziale Lage teilen. „Whiteness“ zielt aber auch auf eine blinde Stelle jener Analysen von Diskriminierung, die seit den 1960er Jahren vor allem im anglo-amerikanischen Raum unter dem Stichwort „ethnicity“ Konjunktur haben und die allzu oft „ethnische Gruppen“ als Minderheiten im Verhältnis zu einer Mehrheit denken, deren „whiteness“ in diesem Konzept zwar vorausgesetzt, aber nicht analysiert wird. Die Problematisierung von „whiteness“ kann – angebunden an die analytische Kategorie „race“ – dazu dienen, dem „Weißsein“ das Privileg der Unsichtbarkeit zu nehmen, „weiße“ Positionen und Identitäten als „racial“ zu markieren und im Verhältnis zu anderen Positionen und Identitäten zu denken.
„Weiß-Werden“ und „Weiß-Machen“ irischer Einwanderer: Die Pointe zielt auf eine jener scheinbaren Selbstverständlichkeiten, die offenbar jenseits aller Einsicht in kulturell produzierte Wahrnehmungen und Interpretationen gelten. Es ist jene Wahrheit, die sich in der Moderne nur dem Augensinn enthüllt. Mehr noch: Der Authentizitätsanspruch des Gesehenen verbindet sich mit dem Wahrheitsanspruch wissenschaftlicher Eindeutigkeit – der messbaren Wellenlänge des Lichts (bzw. der Farben). Genau hier aber setzen die vielfältigen Anstrengungen an, die Konstruktion, also die Kontextbezogenheit und Kontextabhängigkeit der Wahrnehmungs- und Deutungsweisen zu erschließen, die sich auf Hautfarben beziehen. Das „white“ der Iren war ebenso wenig eine Messgröße, wie das „brown“ indischer Frauen (und Männer) im kolonialen Bengalen[4]. Hier wie dort waren sie Resultat sozialer Praxis und ungleicher, oftmals kolonialer Machtbeziehungen. Oder anders: Der „cultural turn“ ist Voraussetzung wie produktive Anregung für Fragen nach der „Color White“.[5] Whiteness nicht als gegebene Größe zu betrachten, sondern zum Forschungsgegenstand zu machen bedeutet also, Vieldeutigkeit zu betonen, whiteness in Beziehung zu anderen (Selbst-)Positionierungen zu denken und zu historisieren.
Die „Farbe Weiß“ zitiert – oder antwortet auf die Betonung, die „blacks“ in den USA, aber auch in Kanada, der Karibik oder Großbritannien seit den 1970er Jahren auf „ihre“ Farbe legen.[6] Selbst- wie Fremddeutungen, die mit (Haut-)Farben operieren, erweisen sich ihrerseits als mehrdeutig. Für „blacks“, zumal in den USA, öffnen sich damit offenbar politische wie akademische Selbstdeutungen, die das hegemoniale Einverständnis über „minority“ oder „ethnicity“ aufkündigen. Als „African Americans“ sahen sich nicht wenige „blacks“ zwar nicht mehr beschimpft wie als „boy“ oder „negro“. Dennoch eröffnete AktivistInnen wie etwa den „Black Panthers“ erst die Aneignung des „black“ eine Möglichkeit, Selbstbewusstsein und Stärke zu demonstrieren.
Unterscheidungen zwischen Menschen nach dem, was als ihre Hautfarbe gilt, sind keineswegs ein Produkt der Moderne im allgemeinen oder der neuzeitlichen Sklaverei im Besonderen.[7] Doch haben sich in der Neuzeit die Formen des Wissens – genauer: des als wissenschaftlich akzeptierten Beglaubigens – fundamental verändert. Szientifische Kriterien und Techniken, naturwissenschaftlich-biologische Parameter zumal, haben eine populäre wie akademische Glaubwürdigkeit von Aussagen über die Menschen und über ihren Wert (oder Unwert) erzeugt, die auch massenmordenden Rassismus im Kolonialismus und insbesondere im Nationalsozialismus legitimieren sollte, vielleicht angetrieben hat.
Die Betonung von Hautfarbe (und anderer äußerlicher „racial marker“) für den modernen Rassismus löst aber nicht die Frage, die Anne Stoler unter Verwendung Foucaultscher Perspektiven stellt: Ist nicht die Wahrnehmung von Rasse seit dem 18. Jahrhundert auf Maßstäbe von Wahrheit gegründet, die auf eine “unsichtbare” Wahrheit über das eigene Leben, nicht zuletzt über seine körperliche Signatur zielen – eine verborgene Wahrheit, die, wie jene über Sexualität und vielfältig verbunden mit ihr, dennoch in Wort und Text, vor allem aber im Gesehenen beglaubigt wird? Neben das Kriterium Hautfarbe, so Stoler, traten in den nie ausschließlich biologistischen Theorien des kolonialen Rassismus immer andere, „unsichtbare“ Register der Klassifizierung. Gerade die Verbindung beider gelte es zu untersuchen. Es scheint, dass Konzepte von Rasse ebendies verknüpfen: die Suggestion des Augensinns mit dem Reiz der Neugier um das, was die Menschen “eigentlich” ausmache, das aber allen Blicken verborgen bleibt.[8] Dabei überdeckt die – scheinbare – Sinnfälligkeit der Differenz das Maß an Konstruktion, d.h. an Abhängigkeit von den Kräftefeldern, in denen sie geformt und genutzt werden.
Der Begriff „Rasse“ gilt hierzulande, ganz anders als „race“ im angloamerikanischen Sprachraum, wo seit Jahrzehnten unter dem analytischen Blickwinkel von „race“ geforscht, entsprechende universitäre Curricula mittlerweile fest etabliert sind und „race“ in der politischen Auseinandersetzung um die Beschreibung und Gestaltung der Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, bislang weitgehend als analytisch untauglich und politisch höchst fragwürdig.[9] Das englische „race“ und das deutsche „Rasse“ sind weder in ihren Bedeutungsfeldern noch in ihren Konnotationen deckungsgleich. Insofern eine kritische Untersuchung von whiteness, die immer auf die Differenzkonstruktionen von „race“ verwiesen ist, sich der Gefahr aussetzt, diese Differenzen zu essentialisieren, gilt das womöglich in besonderer Weise für die Verbindung mit dem Begriff „Rasse“. Zu fragen ist aber, ob das Ausklammern von „Rasse“ nicht mögliche Einsichten in rassifizierte Identitäten und Zuschreibungen, in die Entstehung, Wirkung und Geschichte rassisch konstruierter Differenz blockiert. Die globalen Migrationen der letzten Jahrzehnte haben auch hierzulande die Aufmerksamkeit dafür geschärft, dass in der europäischen Moderne die Bewertungen von Hautfarben wechselnde Konjunkturen hatten. Nicht zuletzt in den kolonialen „Phantasiereichen“ (Birthe Kundrus) haben jene Markierungen langfristige Spuren hinterlassen, welche die „ganz Anderen“ als „Barbaren“ oder „Wilde“ vorstellten (Frantz Fanon; John Maxwell Coetzee): Sie wurden als nicht-weiss wahrgenommen und als andere „Rasse“ biologistisch gekennzeichnet, vielfach ausgeschlossen und brutal verfolgt.
Vor drei Jahren widmete sich Heft 32 von WERKSTATTGESCHICHTE dem Thema „Ethnisierung“ mit einem Ansatz, der nicht von festen Vorstellungen von Ethnizität ausging, sondern Ethnisierung in spezifischen historischen Prozessen kontextualisierte. In gewisser Weise setzten wir das nun mit dem Focus auf „whiteness“ fort. Den Beiträgen des Thementeils ist dabei gemeinsam, dass sie „Weißsein“ nicht nur als „folgenreiche Tatsache“ betrachten, sondern daneben gerade auch die Uneindeutigkeit, Widersprüchlichkeit und Veränderlichkeit des „Weißseins“ betonen.
Die „Neuen Immigranten“ aus verschiedenen süd- und osteuropäischen Gesellschaften in die USA des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts sind Focus der Studie von James Barrett und David Roediger. Diese EinwanderInnen fanden und sahen sich am Arbeitsplatz, innerhalb und außerhalb der Gewerkschaften, in Politik und Kultur in einem ambivalenten, oft prekären Status „zwischen“ den Polen von „non-white“ und „white“. Der lange und widersprüchliche Weg, auf dem die Immigranten in den Fremd- wie in den Selbstzuschreibungen zu „Weißen“ wurden, war aufs engste mit dem Prozess der „Amerikanisierung“ verbunden. Die Praxis der Nationsbildung zeigte sich zugleich als Durchsetzung von „whiteness“.
Der Kommentar von Thomas Holt, der auf englisch erscheint, diskutiert den Aufsatz im Kontext der teilweise sehr hitzig geführten US-Debatte zu „whiteness studies“. Holt verweist zunächst auf die Unschärfe der Kategorie „whiteness“ in Teilen dieser Forschung, unterstreicht jedoch, dass es umso dringlicher sei, den Deutungen und den damit verbundenen Praktiken nachzugehen, die „white“ in spezifischen Kontexten hatte und hat. Sein Resümee: Analysen von „Rasse“ bleiben blind, wenn sie nicht die (Selbst- wie Fremd-)Markierung von „Weiß-Sein“ dekonstruieren.
Ausgehend vom Begriff der „Verkafferung“, der um 1900 in den deutschen Kolonialzeitungen auftauchte, untersucht Felix Axster Grenzziehungen und als bedrohlich empfundener Grenzüberschreitungen in kolonialen Diskursen. Zu „verkaffern“ und damit dem weißen Kollektiv verlustig zu gehen drohten vor allem jene Kolonisatoren, die mit schwarzen Frauen zusammen lebten. Vor dem Hintergrund eines möglichen „Schwarz-Werdens“, wie es der Begriff der „Verkafferung“ impliziert, fragt Axster nach den Bedingungen des „Weiß-Werdens“ und „Weiß-Bleibens“ in der Verschränkung mit klassen- und vor allem geschlechtsspezifischen Zuschreibungen. Es zeigt sich, dass in den kolonialen Diskursen sexuelle Beziehungen oder deren Ausschluss eine in besonderer Weise „gültige“ Grenze des „Weiß-Seins“ markierten. Geschlechtermarkierungen, vor allem aber sexuelle Praktiken produzierten oder unterminierten also in dieser Perspektive Herrschafts- und Elitenpositionen.
Resonanzen zwischen Markierungen von Gender und „Rasse“ erkundet Katja Scherls Untersuchung der bundesrepublikanischen Presseberichterstattung über Elvis Presley in den 1950er Jahren. Während der „King of Rock’n’Roll“ und die Begeisterung für ihn zunächst als nicht normal und als nicht-weiß markiert wurden, verschwanden rassistische Stereotypen vollständig aus den Medienberichten, als Presley 1958 als Soldat in Deutschland Dienst leistete. Im neuen Bild von „Elvis in Uniform“ kam es zu einer engen diskursiven Verknüpfung von Weißsein und Männlichkeit dieser Ikone des American way of life. Scherl stellt diesen Befund in Zusammenhang mit einer Flexibilisierung von „whiteness“ als Normalisierungsstrategie, in deren Folge auch „schwarze“ Musik zur Normalität des „Weißseins“ gehören konnte.
Andrea Petö beginnt ihren Beitrag mit der Feststellung, dass beim Referendum über den Beitritt zur EU in Ungarn deutlich mehr Frauen als Männer ablehnend gestimmt haben. Ausgehend von dieser Erkenntnis, begibt sich die Autorin auf die Suche nach den Gründen, die unter osteuropäischen Frauen zu einer Skepsis gegen die EU geführt haben könnten. Dabei leuchtet die Autorin sowohl die historischen Verhältnisse der verordneten Gleichstellung in den staatssozialistischen Ländern wie auch die aktuelle EU-Politik in Osteuropa aus.
Marc Buggeln berichtet von einer kontroversen Tagung zu den jüngst boomenden „Genocide Studies“, die im Januar in Berlin stattfand. Diese besonders von den USA ausgehende Forschungsrichtung versucht Völkermord vor allem komparatistisch in den Blick zu nehmen, wobei jedoch gleichzeitig noch um die Definition des Begriffs gestritten wird. Zusätzlich verkompliziert werden empirische Untersuchungen durch die starken politischen Ambitionen, die teilweise mit ihnen verfolgt werden.
Ulrike Weckel vergleicht in ihrer Filmkritik die Käutnersche Verfilmung von Des Teufels General mit Zuckmayers erfolgreichem Bühnenstück. Die Glättung der dramatischen Konflikte und die Besetzung der Hauptrolle mit dem adretten Curd Jürgens scheint auf den ersten Blick nur allzu gut zum Mythos von der sauberen Wehrmacht zu passen, der mit der Gründung der Bundeswehr in Westdeutschland vielfach propagiert wurde. Schaut man dagegen genauer hin, zeigen sich allerlei Ambivalenzen, die die Deutungsvielfalt für die Zuschauer erhöhten und – so Weckels Plädoyer – von der Forschung nicht vorschnell mit Gewissheiten über ein “kollektives Gedächtnis” zugeschüttet werden sollten.
Im Rezensionsteil drucken wir in diesem Heft erstmals eine englischsprachige Rezension ab. Wir planen, das in Zukunft häufiger zu tun. Es geht uns dabei weniger um das Einsparen von Übersetzungsarbeit, als vielmehr darum, die doch etwas andere anglo-amerikanische Besprechungstradition ungefiltert in der Werkstatt zum Zuge kommen zu lassen. Wenn wir damit punktuelle Beiträge leisten, die Rezeptionsbarrieren für deutsche Bücher im englischen Sprachraum abzubauen, sollte uns das sehr freuen.
Alf Lüdtke, Stefan Mörchen und die Redaktion
1 George Lipsitz, The Possessive Investment in Whiteness. How White People Profit from Identity Politics, Philadelphia 1998, S. vii: “[W]hiteness is, of course, a delusion, a scientific and cultural fiction that like all racial identities has no valid foundation in biology or anthropology. Whiteness is, however, a social fact, an identity created and continued with all-too-real consequences for the distribution of wealth, prestige, and opportunity.”
2 David Roediger, Wages of Whiteness. Race and the Making of the American Working Class, London/New York 1991.
3 Noël Ignatiev, How the Irish Became White, New York 1995.
4 Gayatri Chakravorty Spivak, Can the Subaltern Speak?, in: Cary L. Nelson und L. Grossberg (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Basingstoke 1988, S. 271-313.
5 Dazu die Aufsätze von David Roediger, Colored White. Transcending the Racial Past, Berkeley/Los Angeles/London 2002.
6 Vgl. J. L. Dillard, Black English. Its History and Usage in the United States, Oxford 1971; zur verstärkten Selbstbenennung von Menschen als “brown”, vgl. Spivak, Can the Subaltern Speak?
7 Mervyn C. Alleyne, The Construction and Representation of Race and Ethnicity in the Caribbean and the World, Mona/Jamaica 2002; Laurence Shore, The Enduring Power of Racism: A Reconsideration of Winthrop Jordan´s White over Black., in: History and Theory 44 (2005), S. 195-226.
8 Ann Laura Stoler, Race and the Education of Desire, Durham/London 1995, S. 205.
9 Das ist zum einen eine Folge des Nationalsozialismus und seiner Rassenideologie, zum anderen gab es in Deutschland, anders als in den USA, keine soziale Bewegung, die Veränderungen unter diesem Begriff eingefordert hat.