Editorial: Nr. 36 | tourismus

cover-036 Tourismus ist heute die zweitgrößte Wirtschaftsbranche weltweit. Urlaubsreisen haben sich zu einem festen und zentralen Element der Lebensgestaltung in Industriegesellschaften und ihres kulturellen Selbstverständnisses entwickelt.[1] Umso erstaunlicher ist es, dass die historische Erforschung des modernen Massenreisens, anders als die epochenübergreifende historische Reiseforschung, noch in den Anfängen steckt. In Deutschland ist dies mehr als etwa in Frankreich und den angloamerikanischen Ländern der Fall.[2] Doch ist das hiesige Forschungsinteresse in den letzten fünf Jahren deutlich gestiegen: Vor allem jüngere Historiker und Historikerinnen entdecken Tourismusgeschichte als interessantes Forschungsfeld.[3] Im Gegensatz zu den »großen« und »wichtigen« Themen Arbeit, soziale Ungleichheit, Wirtschaft oder Politik wird einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Urlaubsreisen dabei aber noch immer eine besondere Legitimation abverlangt,[4] die indes nicht schwer fallen sollte. Denn die Tourismusgeschichte erschließt Prozesse historischen Wandels der Moderne durch neue Fragestellungen und Perspektiven und erlaubt eine ertragreiche Erforschung von gesellschaftlicher Modernisierung, der Vergemeinschaftung sozialer Gruppen, kulturellem Wertewandel und ökonomischen Entwicklungen im 19. und 20. Jahrhundert.[5]

Eine mögliche Zugangsweise zum Forschungsfeld ist, die Akteure, diskursiven Aushandlungsprozesse und kulturellen Bedeutungen bei der Entstehung und Entwicklung touristischer Ziele zu betrachten. Wie entstanden touristische Orte; wie wurden sie erfolgreich als solche aufrecht erhalten – oder auch nicht? Wer errang wann die Definitionsmacht darüber, was ein lohnenswertes touristisches Ziel oder eine sinnvolle touristische Praxis ist – lokal, regional und überregional? Wie beeinflussten etwa Wissenschaft, Politik oder Ökonomie die Entwicklung des Tourismusdiskurses und der touristischen Praktiken? In welchem Verhältnis standen Angebot und Nachfrage zueinander? Bei diesen Fragestellungen bestehen Affinitäten zur Wissenschafts-, Diskurs- und Wirtschaftsgeschichte, während Studien, die sich stärker auf die Wahrnehmung und Aneignung touristischer Ziele durch die Reisenden und auf deren Praktiken konzentrieren, von der Erfahrungs- und Körpergeschichte inspiriert sind.

Ein historisch noch wenig erforschtes Feld sind die Wechselwirkungen zwischen Reisenden/Tourismus und Einheimischen/touristischen Zielen. Wie sich Orte, Regionen, Länder durch ihre touristische Erschließung und den Einfluss des (Massen)-Tourismus veränderten, welche Chancen, welche Gefahren der Tourismus für die Bevölkerung touristischer Gebiete barg, inwiefern diese die Entwicklung selbst mit beeinflusste und wie sich ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen dabei änderten, ist noch kaum untersucht. Auch bei diesen Fragen werden gesellschafts- und wirtschaftsgeschichtliche Aspekte angesprochen, aber etwa auch Umwelt- und Verkehrs-, Diskurs- und Wahrnehmungsgeschichte. Insgesamt ist das junge, expandierende Forschungsfeld Tourismusgeschichte stark interdisziplinär geprägt und vor allem von der Kulturgeografie, der Kultur- und Raumsoziologie, der Kulturanthropologie und der Tourismusökonomie inspiriert.

Andreas Mai untersucht am Beispiel der im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreiteten Reiseform Sommerfrische, wie touristische Räume und Praktiken entstanden und fortgeschrieben wurden. Sozialgeschichtlich fragt er nach lokalen Entwicklungen und Aushandlungsprozessen; diskursgeschichtlich nach der Popularisierung touristischer Orte und Praktiken durch Wissenschaft und Medien. Mai zeigt, dass die Geschichte der Sommerfrische mit dem Ansatz des »touristischen Blicks« nicht vollständig zu erfassen ist, und plädiert für eine Erweiterung der historischen Perspektive bei der Erforschung touristischer Ziele und Praktiken.

Christian Noack geht in seinem Beitrag dem bislang kaum beachteten Phänomen des innersowjetischen Individualtourismus im Kontext des entstehenden Massentourismus der 1960er und 1970er Jahre nach. Am Beispiel des Schwarzmeerbadeortes Anapa unternimmt er das schwierige Unterfangen, aus offiziellen sowjetischen Quellen und zeitgenössischen soziologischen Untersuchungen die Reisebedingungen, Motive und Erfahrungen »wilder Touristen« jenseits des organisierten Sozialtourismus zu erschließen. Er vergleicht die individuellen mit den organisierten Tourismusformen und fragt nach der gesellschaftlichen Bedeutung des trotz zahlreicher Probleme mit unzureichender Infrastruktur weit verbreiteten innersowjetischen individuellen Strandtourismus, der dem Individualtourismus westlicher Prägung erstaunlich ähnlich war.

Wiebke Kolbe knüpft in ihrem Werkstattbericht an die derzeitige Diskussion um die historische Bildforschung an und zeigt, wie sich Werbeplakate des Seebädertourismus im frühen 20. Jahrhundert für die Tourismusgeschichte nutzen lassen. Sie argumentiert, dass Werbung und Tourismus eine hohe Affinität aufweisen, denn beide arbeiten mit kollektiven Träumen und Utopien. Gerade Bildwerbung ist deshalb eine so gewinnbringende Quelle tourismusgeschichtlicher Forschungen, weil sie in besonderem Maße auf die mit dem Urlaub verbundenen Vorstellungswelten verweist.

Im Mittelteil verbindet Nils Römer in seinem Beitrag über jüdischen Tourismus in Worms ein tourismushistorisches Thema mit Fragestellungen zu »lieux de mémoire«. Er zeigt, wie in einer Stadt ohne jüdische Gemeinde durch Einflüsse lokaler Funktionäre, örtlicher und internationaler Presse sowie vornehmlich jüdischer Touristen und ehemaliger Einwohner ein jüdischer Erinnerungsort geschaffen wurde. Der Friedhof und die wieder errichtete Synagoge dienen dabei bis heute den Bemühungen, die Stadt als Reiseziel attraktiv zu gestalten.

Hanno Loewy beschäftigt sich mit den Selbstbildern von NS-Tätern und stellt seinen Interpretationsansatz vor, der das Narrativ des Tragischen als den gemeinsamen Nenner dieser Selbstbilder identifiziert. Er diskutiert das dafür wesentliche Konzept der »schuldlosen Schuld« anhand historischer Dokumente, fiktiver Erzählungen und aktueller geschichtswissenschaftlicher Debatten.
Der Kategorie »gender« in der modernen jüdischen Geschichtsschreibung widmete sich eine Tagung am Institut für die Geschichte der deutschen Juden in Hamburg, von der Miriam Rürup berichtet. Die Autorin spricht sich für eine differenziertere Analyse der geschlechtsspezifischen und religiös/ethnischen Zuschreibungen aus.

Der Hollywood-Sandalenfilm feiert seit dem großen Erfolg von Gladiator im Jahr 2000 überraschend Konjunktur. Mischa Meier fragt nach den Ursachen für diesen unerwarteten Erfolg und zeigt, dass Gladiator modernen Blockbustern tatsächlich viel näher steht als dem klassischen Antikfilm.

Mit diesem Heft erscheint WERKSTATTGESCHICHTE erstmals im Klartext Verlag. Wir möchten uns an dieser Stelle ganz herzlich von unserem langjährigen Verleger Dietrich Lüders verabschieden, der unserer Arbeit mit einem außergewöhnlich hohen persönlichen Engagement begleitet und unterstützt hat. Wir danken außerdem unserem Setzer und Gestalter Michael Herold, der über viele Jahre dafür gesorgt hat, dass unsere Zeitschrift nicht nur interessant, sondern auch schön zu lesen ist. Wir freuen uns auf ein produktive Zusammenarbeit mit dem Klartext Verlag.

Wiebke Kolbe, die Redaktion und die Herausgeberinnen und Herausgeber

Der Essener Klartext Verlag besteht seit über 20 Jahren und ist mit regionalen Themen gestartet. Im Laufe der Jahre sind weitere Programmschwerpunkte hinzugekommen: Die Geschichte des 20. Jahrhunderts, Industrie- und Sozialgeschichte, Kulturgeschichte, Sport und Unterhaltung. Jährlich erscheinen rund 100 Neuerscheinungen und etliche Zeitschriften; insgesamt umfasst das Verlagsprogramm über 1.200 Titel.

Das erste Verlagsprogramm 1983 war den Barfußhistorikern und der Idee einer »Gegenöffentlichkeit« verbunden: Es erschienen Bücher, die sonst kaum eine Chance für eine Publikation gehabt hätten. Diese »Geschichte von unten«, an der sich auch Nicht-Historiker beteiligten, brachte im Klartext-Verlag verdrängte Themen zur Sprache. Dies waren die Geschichte des Alltags, die Geschichte der »kleinen« Leute und die Geschichte des Nationalsozialismus. Insbesondere der Alltag im Nationalsozialismus bewies nach dem Erscheinen der Bücher oft seine aktuelle Brisanz: Opfer und Täter hatten eine Adresse in der Nachbarschaft, was zu Auseinandersetzungen führte, den Themen aber auch eine ganz neue öffentliche Aufmerksamkeit bescherte.
Die Themen der »Geschichte von unten« sind mittlerweile anerkannte Gegenstände der historischen Forschung und Lehre geworden. Das Programm des Verlags ist im Laufe der Jahre um viele Aspekte der Geschichte des 20. Jahrhunderts erweitert worden – oft gemeinsam mit Autorinnen und Autoren, deren Fragestellungen und Forschungsinteressen sich ebenfalls verändert und erweitert haben.

»WERKSTATTGESCHICHTE« passt sehr gut in unser Profil und bereichert unser Verlagsprogramm nicht zuletzt durch den Blick der Zeitschrift auch auf die Frühe Neuzeit. Wir hoffen auf eine gute Zusammenarbeit mit den Herausgeberinnen und Herausgebern sowie den Autorinnen und Autoren, und wir begrüßen die Leserinnen und Leser. Wir werden uns gern dafür engagieren, der Zeitschrift eine gebührende Aufmerksamkeit im Buchhandel und in der Öffentlichkeit zu verschaffen.

Der Klartext Verlag

[1] Christoph Hennig, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt/Main 1999, S. 9, 66.
[2] Vgl. Jürgen Reulecke, Kommunikation durch Tourismus? Zur Geschichte des organisierten Reisens im 19. und 20. Jahrhundert, in: Hans Pohl (Hg.), Die Bedeutung der Kommunikation für Wirtschaft und Gesellschaft, Stuttgart 1989, S. 358-378, hier S. 359f. Zur Reiseforschung siehe z.B. Michael Maurer (Hg.), Neue Impulse der Reiseforschung, Berlin 1999.
[3] Neuere Forschungsüberblicke geben Hasso Spode, Tourismusgeschichte als Forschungsgegenstand. Bilanz und Ausblick, in: Andrea Leonardi/Hans Heiss (Hg.), Tourismus und Entwicklung im Alpenraum, 18.-20. Jahrhundert, Innsbruck 2003, S. 83-97; Cord Pagenstecher, Neue Ansätze für die Tourismusgeschichte. Ein Literaturbericht, in: Archiv für Sozialgeschichte 38 (1998), S. 591-619.
[4] Vgl. Hasso Spode, Zur Einführung: Wohin die Reise geht, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 1 (1997), S. 7-12, hier S. 9.
[5] Vgl. Alon Confino, Tourismusgeschichte Ost- und Westdeutschlands. Ein Forschungsbericht, in: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 2 (1998), S. 145-152, hier S. 145; Andreas Mai, Erfindungen des Tourismus im Vergleich, in: Comparativ 14 (2004) (im Druck).