Editorial: Nr. 33 | querulant

cover-033Eduard Sonntag, der um 1900 in der Danziger Niederung lebte, träumte von einer wichtigen Rolle in der Lokalpolitik seines Landkreises. Immer wieder diente er sich der Regierung als »konsequent konservativ« an. Umso empörter reagierte er, als der Landrat seines Kreises nicht ihn, sondern einen freisinnigen Gutsbesitzer zu seinem Vertrauten machte. Sonntag überhäufte das Danziger Regierungspräsidium und das Berliner Innenministerium mit Beschwerden, in denen er sich selbst zum »Volksanwalt« stilisierte, der im Unterschied zur laschen Toleranz des Landrates gegenüber der liberalen Opposition die Regierungstreue der Landbevölkerung verteidige. Doch die Bürokratie wischte seinen Furor mit der Feststellung beiseite, Sonntag sei nur »ein Querulant schönster Sorte«.[1]
Mit dieser amtlichen Etikettierung war Sonntags Scheitern besiegelt. Historiker und Historikerinnen, die häufig mit Behördenakten des 19. und 20. Jahrhunderts arbeiten, wird dies kaum wundern. Stößt man doch regelmäßig auf Menschen, deren Forderungen jeder inhaltlichen Erörterung durch den Vermerk entzogen wurden, sie seien »eigensinnige, rechthaberische und rücksichtslose Persönlichkeiten« und besäßen eine »unglaublich lebhafte Phantasie«.[2] Kurzum: Sie beharrten gegenüber den Institutionen der Macht auf ihren eigensinnigen Wahrnehmungen und Deutungen der sie umgebenden Wirklichkeit (und ihrer eigenen Person).
Diese »Persönlichkeiten«, ihre Weltdeutungen und Interaktionen mit den Institutionen gesellschaftlicher Macht in einem Themenheft in den Blick zu nehmen, erschien uns schon aufgrund der Alltagserfahrung im Archiv als lohnendes Experiment. Die oft tragischen Geschichten von »querulanten« Personen blitzen immer wieder in den Akten von Behörden, Gerichten oder Fürsorgeeinrichtungen auf, und häufig steht man vor der Frage, wie mit ihnen methodisch korrekt umzugehen sei. Wie »pathologisch« mögen Weltwahrnehmung und .beschreibung dieser Autoren sein? Wie »ernst« darf man ihre Aussagen dort nehmen, wo sie im Widerspruch zum Diskurs der Institutionen stehen? Und schließlich: Wie gewinnt man Zugang zur jeweils ganz individuellen Welt eines »Querulanten«?
Gerade weil Querulanten so omnipräsent erschienen, glaubten wir, es müsse ein Leichtes sein, ein Themenheft zur Geschichte der Querulanz zu füllen. Das erwies sich als Irrtum. Zwar bestätigte uns fast jeder Kollege/jede Kollegin, dass auch ihm/ihr diese Akteure bekannt seien. Alle ermunterten uns, bei diesem spannenden Thema nicht locker zu lassen. Einige deuteten an, reichhaltiges Material bereitliegen zu haben. Nur schreiben wollte fast niemand. Vielleicht ist die Querulanz ein noch zu unerschlossenes und methodisch anspruchsvolles Themenfeld? Dann hätte die langwierige Vorgeschichte dieses Heftes immerhin das erkennbar gemacht, was Historiker gern als Desiderat bezeichnen.
Mit Cornelia Brink und Karoline Großenbach ließen sich zwei Historikerinnen, die seit längerem zur Geschichte der Psychiatrie arbeiten, darauf ein, sich der Querulanz zu nähern. Beide stellen Menschen in den Mittelpunkt, die von Psychiatern als deviant, therapie- wie verwahrungsbedürftig definiert worden waren und diesen Fremd- nun Selbstbeschreibungen entgegensetzten, mit denen sie sich selbst als »normal« oder aber als in positivem Sinn »außergewöhnlich« zu inszenieren suchten. Die »Irrenärzte« wiederum glaubten, gerade in diesen Reaktionen weitere Belege für die Richtigkeit ihrer pathologisierenden Diagnose zu erkennen. Das als Querulanz etikettierte Verhalten erscheint in diesem Kontext als der scheiternde Versuch, Stigmatisierungen von Seiten mächtiger Institutionen durch individuellen Widerspruch abzuwehren. Während Brink anhand von »Irrenbroschüren« der vorletzten Jahrhundertwende den Aushandlungsprozess über Normalität und Normativität ins Zentrum rückt, erörtert Großenbach anhand von Patientenakten des frühen 19. Jahrhunderts das Spannungsfeld zwischen individuellen religiösen Erfahrungen und der neuen psychiatrischen Diagnose des »Religionswahnsinns«.
Vielleicht ist es bezeichnend, dass der Blick damit auf sehr spezifische Ausprägungen der Querulanz fällt. Beabsichtigt war es nicht, und so sollte dieses Heft denn auch gegen den ersten Anschein nicht als Heft zur Psychiatriegeschichte gelesen werden. Vielmehr versucht es, vor dem Hintergrund seiner schwierigen Genese zwei Bälle in das größere Themenfeld zu werfen, in der Hoffnung, weitere Mitspieler zu einem veritablen Querulanten-Match zu animieren.
Im Mittelteil untersucht Cornelia Siebeck den diskursiven Umgang mit der Geschichtslandschaft zwischen dem Reichstagsgebäude und dem Schlossplatz im Zuge der Neu- und Umgestaltung der historischen Mitte Berlins nach 1989. Es sei, so ihr Fazit, eine Renaissance der Symbolpolitik in der Bundesrepublik zu beobachten, deren Bezugspunkte der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und die damit verbundenen Konsequenzen für deutsche Politik und Identität darstellten.
Joan Scott plädiert in ihrer keynote address auf der 12. Berkshire Conference on the History of Women für eine feministische Analytik der Macht, um gegenwärtige politische Entwicklungen einer kritischen Interpretation zu unterziehen. Ausgehend von einer Kritik an essentialistischen Identitätsvorstellungen analysiert sie den israelisch-palästinensischen Konflikt, den »Kampf gegen den Terrorismus«, und sie macht darauf aufmerksam, dass feministische Strategien und Entwürfe durch Zirkulationen in unterschiedlichen lokalen und institutionellen Kontexten ihre Bedeutung(en) verändern.
Dorothee Wierling berichtet über die Tagung Europe-Israel: a Troubled Relationship am 24./25.11.2002 in Tel Aviv. Ziel dieser Tagung war es, in einem politischen Dialog zwischen Israel und Europa (v.a. Deutschland und Frankreich) dem Problem der Abgrenzung von Israelkritik und Antisemitismus nachzugehen.
Johannes von Moltke analysiert den von Hans König 1952 fertiggestellten Film Rosen blühen auf dem Heidegrab und stellt seine Analyse in den Kontext der cineastischen Produktion der Ära Adenauer. Innerhalb dieser scheint gerade der Heimatfilm die Geschichtsvergessenheit der deutschen Nachkriegszeit zu repräsentieren. Königs Film, vermarktet als künstlerisch wertvoller Heimatfilm, enthält aber spätestens am Ende eindeutige Konnotationen des Horrorfilms, die ein differenzierteres Bild der ideologischen Botschaft des deutschen Nachkriegsfilms eröffnen.

Die Redaktion

[1] Beschwerde Sonntags beim Innenministerium v. 8.9.1900 und Stellungnahme des Danziger Regierungspräsidiums v. 31.8.1901, in: Geheimes Staatsarchiv der Stiftung Preußischer Kulturbesitz (GStAPK), I. Ha, Rep. 77, Tit. 772, Nr. 28, Band 8.
[2] Bericht des ostpreußischen Oberpräsidenten an das Innenministerium v. 30.9.1883, in: ebenda, Band 3 und Bericht des Neumarkter Landrates an das Breslauer Regierungspräsidium v. 23.9.1886, in: Archiwum Panstwowe w Wroclawiu, Rejencya Wroclowska, Wydzial I, Nr. 8724.