Editorial: Nr. 26 | Wahrheit

Erkennungsdienstliche Fotoaufnahmen nach einer Verhaftung: Routine für die Gestapobeamten – für die Verhafteten der Anfang einer gewaltsamen Verhörpraxis. Die Bilder zeigen Ilse Stöbe, die im Zusammenhang der Festnahme von Mitgliedern der Roten Kapelle im Jahr 1942 verhaftet wurde. Sie wurde »wegen Landesverrat« zum Tode verurteilt und am 22.12.1942 in Plötzensee hingerichtet. Bildquelle: Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.

Es ist schwer, die Wahrheit zu sagen, denn es gibt nur eine, aber sie ist lebendig und hat daher ein lebendig wechselndes Gesicht.

Franz Kafka

 

Als Franz Kafka über die Suche nach der Wahrheit schrieb, deutete er die Schwierigkeiten jeder Annäherung an den Begriff an. Sich auf die Suche nach der Wahrheit zu begeben, erweist sich als mühevolle Reise, die mit ihrem lebendigen, wechselnden Gesicht konfrontiert und den mehrdeutigen Prozeß, in dem Wahrheit gesellschaftlich ausgehandelt wird, vor Augen führt. Daß es Fakten gibt, an denen für die Geschichtswissenschaft kein Weg vorbeiführt, steht außer Frage. Individuelle Entwürfe der Vergangenheit und subjektive Wahrheiten haben jedoch oft ein anderes Gesicht als die faktische Wahrheit von Orten und Daten oder etwa als diejenige, die in juristischen Verfahren ermittelt wird.

Der in Oxford lehrende Historiker Felipe Fernández-Armesto schrieb 1997 eine Geschichte der Wahrheit und nannte sie einen »Guide for the Perplexed«. Unsicherheit und Verwirrung im Umgang mit dem Begriff hält er für ein Symptom der heutigen Zeit, in der man nicht mehr nur den Inhalt von Wahrheit in Frage stellt, sondern deren Existenz und Möglichkeit überhaupt bestreitet. Fernández-Armesto hingegen versteht Wahrheit als grundlegend für alles andere: für jede menschliche Äußerung und jede menschliche Gesellschaft. Und doch schreibt er: »Die Natur der Wahrheit entzieht sich uns; wir haben keine befriedigende Definition zur Verfügung, kein einvernehmliches oder verläßliches Verfahren der Wahrheitsfindung zur Hand.« In dieser Skepsis stimmt er mit Kafka überein. Fernández-Armesto will dennoch die Wahrheit gegen jeglichen philosophischen und moralischen »Extremismus« verteidigen. Auch wenn ihr Wesen letztendlich nicht zu fassen ist, stellt sie für ihn eine Instanz dar, weit mehr als nur ein Synonym für Überzeugungen oder Meinungen, die gesellschaftlichen Bedürfnissen oder der Bequemlichkeit von Eliten dienen.

Die Texte dieses Heftes setzen sich mit unterschiedlichen Versuchen der Wahrheitssuche auseinander, bei denen sich individuelle und gesellschaftliche Bedürfnisse nach Wahrheit überschneiden. Gleichzeitig führen sie eine scharfe Konfrontation konkurrierender Wahrheiten vor. Gesine Krüger befaßt sich in ihrem Beitrag mit der südafrikanischen Truth and Reconciliation Commission (TRC), der Wahrheitskommission, die sich zum ersten Mal der öffentlichen Untersuchung und Aufarbeitung der Apartheid widmet. In ihrem Aufsatz untersucht sie die Frage des Umgangs mit unmittelbarer Zeitgeschichte, mit faktischer Wahrheit und subjektiver Erinnerung, mit Erinnerung und Geschichtspräsentation, mit Geschichte als Legitimationswissenschaft und dem Verhältnis von Historikern und Richtern bei der Aufarbeitung systemischen Unrechts. Besonders hebt sie die Bedeutung der öffentlichen Hearings der südafrikanischen Wahrheitskommission hervor, die auch denjenigen die Möglichkeit gegeben haben, Zeugnis abzulegen und zu sprechen, die oft nicht in einer geordneten Rede, widerspruchsfrei und in klarer narrativer Abfolge aussagen konnten.

Robert G. Moeller untersucht, welche Rolle den Erfahrungen deutscher Kriegsgefangener in sowjetischen Lagern im Opferdiskurs der Bundesrepublik zukam. Er analysiert, zu welcher Wahrheit die Geschichten aus der »Stacheldrahtuniversität« anderthalb Jahrzehnte nach Kriegsende geronnen waren und arbeitet am Beispiel des 1961 von Leopold Lahola gedrehten Films »Der Teufel spielte Balalaika« die hergestellten Analogien zwischen Kriegsgefangenenlagern und Konzentrationslagern heraus. Für die meisten Deutschen, so Moeller, endete die Suche nach historisch »geläuteter« Wahrheit bei der ausdrücklichen Gleichsetzung von jüdischen und deutschen Opfern. Auch die historische Forschung ist seiner Meinung nach erst am Anfang, dieser Ansicht ein differenziertes Bild entgegenzustellen, in dem deutsche Soldaten sowohl als Täter wie auch als Opfer sichtbar werden.

Isabel Richter konzentriert sich in ihrem Text auf Aussagen von Männern und Frauen aus dem linken Widerstand in Verhören der Gestapo, die den Untersuchungsrichtern des Volksgerichtshofs zur Anklageerhebung von Hochverratsverfahren dienten. Richter nimmt die Verhöre als Herrschaftspraxis im Nationalsozialismus in den Blick. Sie demonstriert, daß die Verfahrensakten nicht für Wahrheiten bürgen, trotz allem aber nicht nur von Festschreibungen der Gestapo, sondern auch von Selbst- Entwürfen der Verhörten durchzogen sind. Ihr Text analysiert die Produktion und den Umgang mit Geständnissen in Hochverratsverfahren und macht unter anderem deutlich, wie Fakten entstehen.

Im Mittelteil des Heftes veröffentlichen wir eine Rede, die Reinhard Rürup zur Eröffnung der Ausstellung »Foto-Feldpost« im deutsch-russischen Museum Berlin- Karlshorst im März dieses Jahres gehalten hat. Zu sehen waren dort 400 private Aufnahmen von Wehrmachtssoldaten der Ostfront, die zum großen Teil aus der Sammlung des Museums stammen. Rürup hebt hervor, daß Vorsicht am Platze ist, den dokumentarischen Wert solcher Fotos höher einzuschätzen als von Aufnahmen, die im Dienste der deutschen Propaganda entstanden sind. Die Wahrheit dieser Bilder verweist vor allem auf die ideologischen Vorannahmen derjenigen, deren Blick sie reflektieren.

Brewster Chamberlins erste Bestandsaufnahme der amerikanischen Rezeption der Tagebücher Victor Klemperers macht deutlich, wie »deutsch« das Echo auf die Aufzeichnungen hierzulande war: nicht nur in Bezug auf den Inhalt, sondern auch im Hinblick auf die sprachliche Form. Um deutlich zu machen, wie anders und mit wie viel weniger Befangenheit die Debatte in den USA vonstatten geht, haben wir uns entschlossen, Chamberlins Ausführungen in der englischen Originalfassung zu veröffentlichen.

Christine von Oertzen und Erika Buchholtz haben sich zwei Ausstellungen angeschaut, die diesen Sommer in Berlin zur deutsch-jüdischen Geschichte zu sehen waren. Thomas Lindenberger schließlich führt mit seiner Analyse des Farbfilms »Sonnenallee« von 1999 vor, daß der Film auch, was die Deutung der »wahren« DDR anbelangt, weit mehr als eine Abstufung von Grautönen zu bieten hat.

Die Redaktion