Editorial: Nr. 72 | glauben machen

titelbild_072
Christine Kriegerowski, Auf der Suche nach einem Heiligen. Ausstellung über den Heiligen Vincent Palotti (1795-1805) in der St. Christophorus-Kirche in Berlin Neukölln, 15. April bis 15. Mai 2016. Schabetechnik auf Pappe und Holz, Maße variabel, Heilig: 40,2 x 30,4. © Christine Kriegerowski

Glauben fällt nicht vom Himmel. Dass Deutungs- und Wertesysteme konkurrieren, ist keine überraschende Feststellung. Während aber die Herstellung von wissenschaftlichen Tatsachen vielfach diskutiert worden ist, scheinen Fragen nach der Herstellung von »Glaubens-tatsachen«, seien sie religiös oder säkular, weniger selbstverständlich. Dabei sind die Praktiken, mit denen Menschen glauben machen und glaubend gemacht werden, ebenso komplex wie die Praktiken wissenschaftlicher Erkenntnis. Und sie sind ebenso historisch gebunden. Doch wohnt Glaubenssystemen – nicht nur in ihren religiösen Spielarten – meist ein universaler Anspruch inne.

Sie meinen, die alleinige Wahrheit und Rechtgläubigkeit (Orthodoxie) zu besitzen, was häufig mit Vorstellungen von Reinheit einhergeht. Eine nähere Betrachtung erhellt jedoch, dass synkretistische Phänomene die Regel sind. Glaubenssysteme nehmen in einem geradezu dialektischen Prozess Aspekte anderer Systeme in sich auf und anverwandeln sich dadurch selbst dem als fremd Markierten. Besonders fällt der synkretistische Charakter von Glaubenspraktiken auf, wenn es um die Konstituierung von Wahrheit und Reinheit geht. So diente beispielsweise die quasi-religiöse Anbetung der Vernunft in der Französischen Revolution nicht nur politischen Interessen, sondern unterstrich auch die Wahrheit der revolutionären Ideen. Historisch gesehen stellt Synkretismus einen Vorwurf dar und verweist auf Auseinandersetzungen um den rechten Glauben, die Rechtgläubigkeit. Der Begriff beschreibt außerdem eine Mischung von Komponenten aus eindeutig als getrennt verstandenen Religionen oder Bekenntnissen. Zudem wird er als analytisches Kriterium benutzt, um (metaphorische) Übertragungen zwischen religiösen und profanen Bereichen zu fassen.

Die AutorInnen des vorliegenden Hefts loten solche Grenzüberschreitungen und Anverwandlungen epochenübergreifend aus. Sie konzentrieren sich auf Praktiken der sakralen und säkularen Verehrung bzw. auf die Konstituierung dessen, was Religion ausmacht: das Heilige, das Sacrum. Damit werden am Beispiel synkretistischer Praktiken zwei zentrale Themenfelder religions- und kulturwissenschaftlicher Forschungen thematisiert. Zum einen geht es um (reklamierte) Wahrheit und Transzendenz sowie die Konstituierung des Wahren und Falschen durch die Festsetzung von Grenzen, zum anderen um Transkulturalität oder Transreligiosität und damit um die Formung von Eigenem und Fremdem oder von Heiligem und Profanem.

Die Beiträge behandeln profane und religiöse Felder, sie zeigen, wie das Heilige Profanes aufnimmt und wie seine transzendente Bedeutung (metaphorisch) auf Profanes übertragen wird. Die transkulturelle oder synkretistische Bedeutung von Heiligkeit besteht, so kann man konstatieren, darin, dass sie in säkularen Bereichen wirkt und gleichzeitig durch Säkulares bestätigt werden kann. Synkretismus oder Transreligiosität sind, so sollen die Diskussionen dieses Hefts zeigen, weder ausschließlich innerreligiöse Phänomene oder gar vor allem der Zeit der Ausbildung von Bekenntnisreligionen zuzuordnen, noch sind sie besonders typisch für eine postmoderne Konsumgesellschaft, die Religion, Glauben und Ethik als Wahlmöglichkeiten präsentiert und der Selbstoptimierung oder Lebensstilen unterordnet. Sie stellen auch keine Übergangsphänomene zwischen Bereichen dar, die in der Moderne vermeintlich sauber getrennt sind. Man kann sie eher als Instrumentarien zur Analyse von Wahrheit, Verehrung und Transzendenz begreifen.

Die Beiträge eröffnen ein breites Spektrum des Synkretistischen und ergänzen sich dabei über die Epochen hinweg. Sie behandeln die Konstituierung des Heiligen, Figuren der Verehrung, Praktiken zum Beweis von Heiligkeit und seine (metaphorische) Übertragung in das Profane.

Michael G. Müller geht zurück in die Zeit der Reformation in Danzig. Er stellt die transkulturellen und transreligiösen Positionen vor, die die Konflikte um den rechten Glauben bestimmten. Nicht nur, dass die Ausbildung der Bekenntniskirchen Unterscheidungen zwischen Orthodoxie, Synkretismus und Heterodoxie schärfte, auch waren wissenschaftliche, theologische und weltliche Akteure beteiligt. Die Aushandlung des Sacrum selbst kann als synkretistisch beschrieben werden.

Christoph Augustynowicz betrachtet das Transkulturelle oder Transreligiöse des Vampirglaubens, der Elemente christlicher, animistischer und profaner Praktiken vereinte und im 18. Jahrhundert Gegenstand wissenschaftlicher Definitionen wurde. Wissenschaftliche Beweisführung diente, so kann er zeigen, der Bestätigung des rechten Vampirs und Vampirglaubens.

Die Herstellung von Nachweisbarkeit greift auch Thomas P. Funk auf, der die Praktiken zur »Wahrheit der Visionen« von Therese von Konnersreuth in den späten 1920er Jahren analysiert. Er stellt fest, dass die Augenzeugenschaft als quasi-kinematografischer Beweis, als mechanische Objektivität behandelt wurde, mit der Wissenschaft und Glauben verbunden werden konnten.

Wie im Beitrag von Michael G. Müller geht es auch im Text von Anja Burghardt um eine Konstituierung des Heiligen, dieses Mal allerdings ist das Heilige selbst ein Synkretismus – oder eine Übersetzung. Burghardt untersucht die ästhetischen Praktiken einer sowjetischen Fotozeitschrift in den 1960er und 1970er Jahren und arbeitet heraus, wie trotz dezidiert antireligiöser Politik sakrale Bildtraditionen die Arbeiter und die Fabrik als Ikonen glorifizierten und diese zu transzendenten Symbolen der sowjetischen Gesellschaft machten.

Im Mittelteil des Hefts plädiert Klaus Kempter dafür, die von Robert Kurz entwickelten Überlegungen zur Theorie von Karl Marx in gesellschaftstheoretisch orientierte historische Debatten einzubeziehen. Rekurrierend auf Kurz’ Lesart des so genannten »esoterischen« Marx arbeitet er dessen potentiellen Nutzen für die Geschichtswissenschaft heraus. Er plädiert dafür, bisher bestehende kritisch-marxistische Ansätze um das Paradigma der »Wertkritik« zu erweitern, da dieses neue Erkenntnisse zur Geschichte des Kapitalismus und moderner Gesellschaften bieten könne.

In der Filmkritik nimmt Axel Doßmann die Neuverfilmung des DDR-Bestsellers Nackt unter Wölfen, die letztes Jahr in der ARD lief und eine vergleichsweise hohe Einschaltquote erzielte, unter die Lupe. Wollte der DEFA-Film von 1963 sein Publikum noch glauben machen, in Buchenwald habe die Kommunistische Internationale den deutschen Faschismus besiegt und es dabei noch nicht einmal an Menschlichkeit fehlen lassen, so geht es im aktuellen öffentlich-rechtlichen Geschichtsfernsehen um politisch unspezifische Widerständigkeit deutscher Häftlinge gegen die Lager-SS, um väterliche Gefühle und die Bereitschaft, sich für ein jüdisches Kind zu opfern. Axel Doßmann nutzt seine profunden Kenntnisse des historischen Geschehens und der Produktionsbedingungen der verschiedenen Buchenwald-Narrative, um filmische Stärken und Schwächen sowie ungenutzte Chancen dieser Neuverfilmung auszuloten.

Die Expokritik führt in das Deutsche Fußballmuseum in Dortmund. Jan Kleinmanns hat die Dauerausstellung besucht und analysiert, wie hier die Geschichte des Fußballs in Deutschland entworfen und vermittelt wird.

 

Redaktion und HerausgeberInnen trauern um Inge Marszolek, eine Mitbegründerin der WerkstattGeschichte, die am 12. August 2016 nach kurzer Krankheit verstarb. Michael Wildt widmet ihr einen Nachruf.

 

Dietlind Hüchtker, Kerstin S. Jobst und die Redaktion

 

DOWNLOAD