Thomas Etzemüller
Die Realität ist fast schon der Roman… Aber warum dichten Wissenschaftler dann eigentlich nicht selber? Das Beispiel einer Doku-Fiktion
Fiktion in der (Geschichts-)Wissenschaft ist nach wie vor verpönt. Romane oder Filme dürfen als Quellen für wissenschaftliche Studien verwendet werden, man respektiert Schriftsteller*innen, die ihre Romane solide empirisch fundieren, man gesteht sogar Regisseuren zu, nicht dokumentierte Ereignisse für das Fernsehen doku-fiktional zu rekonstruieren. Doch schon Geschichte zu elegant zu erzählen, stößt auf Abwehrreflexe, und gar selbst literarische Techniken anzuwenden, um empirische Leerstellen zu schließen, ist nach wie vor weitgehend tabu.
Ich diskutiere knapp das Verhältnis von Wissenschaft und Literatur, um anschließend die fiktionalen Erinnerungen eines deutschen Rassenanthropologen zu skizzieren. Diese Form der »fiktionalen Empirie« kann dreierlei dienen: Sie übersetzt eine vergangene, fremde Welt und macht sie plastisch nachlebbar, sie kann die Offenheit der Geschichte imaginativ rekonstruieren, und sie dient als Reflexionsinstanz, wie sehr reale Geschichte im Nachhinein als Groschenroman erscheinen kann, obwohl sie gleichwohl Menschenleben höchst real beeinflusst hat.
The Reality is almost the Novel … But then why don’t Scientists Actually Write Literature themselves? The Example of a Docu-Fiction
Fiction in (historical) science is still frowned upon. Novels or films may be used as sources for scholarly studies, writers who base their novels on solid empirical evidence are respected, and directors are even allowed to reconstruct undocumented events for television in a docu-fictional way. But telling history too elegantly is met with defensive reflexes, and even using literary techniques to fill empirical gaps is still largely taboo. This essay briefly discusses the relationship between science and literature, and then outline the fictional memoirs of a German racial anthropologist. This form of »fictional empiricism« can serve three purposes: It translates a past, alien world and makes it vividly relivable, it can imaginatively reconstruct the openness of history, and it serves as a reflective instance of the extent to which real history can look like a dime novel in retrospect, even though it has affected human lives in the most real way possible.
Kurz-Bio: Thomas Etzemüller
Thomas Etzemüller ist Professor für Kulturgeschichte der Moderne an der Universität Oldenburg. Seine Forschungsschwerpunkte bilden die Geschichte der nordwesteuropäischen Moderne und der Wissenschaftsforschung. Er hat zur Theorie und Geschichte der Geschichtswissenschaft, zu Performanz und Subjektivierung in der Wissenschaft, zur Landschaftsgeschichte, zur Rassenanthropologie und zum Bevölkerungsdiskurs seit 1800 sowie zur Biografieforschung publiziert.
E-Mail: thomas.etzemueller@uol.de