Sascha Brünig
Kerntechnik als Sicherheitsversprechen. Atomwirtschaft und gesellschaftliche Risikodiskurse in der Bundesrepublik der 1980er und frühen 1990er Jahre
Seit Mitte der 1970er Jahre standen die Nutzung der Kernenergie und die mit ihr verbundenen Gefahren im Zentrum gesellschaftlicher Risikodiskurse in der Bundesrepublik. Verstärkt durch den Reaktorunfall von Three Mile Island (1979) und die Katastrophe von Tschernobyl (1986) wähnte sich die westdeutsche Atomwirtschaft weitgehend ihrer Geschäftsaussichten beraubt. Wie ging die Kernindustrie mit der Herausforderung wachsender Atomskepsis um und wie veränderte sich darüber die wahrgenommene Zukunft der Kerntechnik? Der Beitrag verfolgt die These, dass die Atomwirtschaft der fortschreitenden Erschöpfung der »utopischen Energien« (J. Habermas) ihrer Technologie nicht passiv gegenüberstand, sondern aktiv versuchte, der Kerntechnik neue Zukunftsperspektiven zu erschließen. Mit einer Neuausrichtung der Öffentlichkeitsarbeit positionierte man die Kernenergie auf zwei gesellschaftlich diskutierten Unsicherheitsfeldern der 1980er Jahre: die Krise der Industriegesellschaft und die Problematik der Umwelt. Beide Bedrohungen, so das Argument, ließen sich nur durch die Atomkraft auflösen. Das Festhalten an der Kernenergie figurierte auf diese Weise als ein umfassendes Sicherheitsversprechen, das die Zukunft der Atomkraft ebenso absichern sollte wie die ihrer finanziellen und symbolischen Kapitalgeber.
Nuclear Power as a Promise of Security: The Nuclear Industry and Public Discourses of Risk in the Federal Republic of the 1980s and early 1990s
In the mid-1970s, the dangers associated with nuclear power moved to the center of risk debates in Germany. Following the reactor accident at Three Mile Island (1979) and the Chernobyl disaster (1986), the West German nuclear industry’s business prospects severely deteriorated. How did the nuclear industry perceive and confront the challenge of nuclear skepticism? And how did this emerging challenge alter the perceived future of nuclear technology in the Federal Republic and beyond? The article argues that the nuclear industry did not passively accept the »depletion of utopian energies« (J. Habermas) to which the peaceful use of the atom was subjected. Instead, the industry worked to create new (utopian) prospects for nuclear power. The industry’s public relations campaign positioned nuclear power in two interrelated fields of insecurity: the decline of industrial society and environmental crises. Both threats, ran the argument put forth by nuclear proponents, could only be combatted by relying on nuclear power for electricity production. In this way, nuclear power was translated into a comprehensive promise of security that was intended to salvage the future of nuclear power as well as that of its investors in the face of growing anti-nuclear sentiment.
Kurz-Bio: Sascha Brünig
Sascha Brünig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB/TRR 138 Dynamiken der Sicherheit an der Philipps-Universität Marburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Kulturgeschichte der Technik, der Wissensgeschichte und der historischen Sicherheitsforschung.
E-Mail: bruenigs@staff.uni-marburg.de