Nr. 78 | krank machen | Abstract

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Britta-Marie Schenk

[ DEUTSCH | ENGLISH | Kurz-Bio]

Die Grenzen der Disziplinierung. Devianzvorstellungen und Pathologisierungen in der Obdachlosenfürsorge des Deutschen Kaiserreichs

Im Kaiserreich avancierte Obdachlosigkeit zum Massenphänomen. Darauf reagierte der beginnende Wohlfahrtsstaat mit zahlreichen Neugründungen von Obdachlosenasylen und einer steigenden Leistungsvergabe an diese Einrichtungen. Dieser Wandel steht nur auf den ersten Blick im Gegensatz zu anhaltenden Devianzzuschreibungen und der wirkmächtigen Vorstellung, Obdachlose hätten ihre Lage selbst verschuldet. Der Beitrag fragt erstens am Fallbeispiel Berlin danach, welche Rolle Devianzzuschreibungen bei der Leistungsvergabe in den Stadtverordnetenversammlungen spielten. Zweitens wird untersucht, weshalb das städtische Bürgertum begann, sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Obdachlosen in den Asylen einzusetzen. Dieses Spannungsfeld erweiterte sich ab 1900 um ein neues Deutungsangebot: Psychiater attestierten Obdachlosen psychische Krankheiten, die ihre Obdachlosigkeit verursacht hätten. Anhand der ländlichen Wandererfürsorgepraxis in Württemberg wird drittens gezeigt, dass Psychopathologisierungen bis 1914 noch keine Rolle spielten. Anlässlich dieser Grenzen der Pathologisierung diskutiert der Beitrag schließlich Periodisierungen einer Geschichte der Obdachlosigkeit.

[ ENGLISCH | DEUTSCH]

The limits of disciplining. Notions of deviance and pathologisations in Imperial Germany’s homeless relief 

Homelessness became a mass phenomenon in Imperial Germany. The incipient welfare state reacted to this development by founding numerous homeless shelters and increasing their funding. Only at first glance does this change contradict persisting attributions of deviance to the homeless as well as the conception that they were at fault for their situation. That is why the paper explores the role that attributions of deviance played in increasing homeless shelters‘ funding in the Berlin city council assembly. Secondly, the article deals with why the urban bourgeoisie began to advocate the improvement of the living situation of homeless shelters‘ inhabitants. This discourse was expanded by a new explanation of homelessness around 1900: Psychiatrists believed mental illnesses to cause homelessness. With reference to the rural migrants‘ relief in Wurttemberg, the paper makes a third point in showing that psychological pathologisations were insignificant until 1914. Based on these limits of pathologisation, the article discusses periodisations of a history of homelessness.

Kurz-Bio: Britta-Marie Schenk

ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Schwerpunkte liegen in der Disability History, der Geschichte der Humangenetik und Eugenik und der Geschichte der Obdachlosigkeit. Derzeit arbeitet sie an einem Habilitationsprojekt zur Geschichte der Obdachlosigkeit im 19. und 20. Jahrhundert.

E-Mail: schenk@histosem.uni-kiel.de

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