Editorial: Nr. 90 | gewalt geschichten

Francesco Bartolozzi (1727–1815) after John Gabriel Stedman (1744–1797), frontispiece from vol. 1 of Narrative, of a Five Years’ Expedition, against the Revolted Negroes of Surinam, in Guiana, on the Wild Coast of South America, from the Year 1772, to 1777, London: J. Johnson & J. Edwards, 1796, hand-colored stipple engraving, Yale Center for British Art, Paul Mellon Collection.

Das beschauliche Dorf Bärschwil liegt im Solothurner Jura in der Schweiz und mag den wenigsten bekannt sein – schon gar nicht in Hinblick auf Kolonialismus und Gewalt. Am 23.März 1896 ereignete sich aber in diesem kleinen Dorf eine »kolonialisierte« Bluttat: Der fünfzigjährige Ex-Söldner Jeker erschoss ein Ehepaar und dessen achtzehnjährige Tochter. Laut Zeitungsbericht hatte Jeker 13 Jahre in Niederländisch-Indien, dem sogenannten »Batavia«, als Söldner der niederländischen Kolonialarmee gedient und sich »im Laufe der Jahre eine ungemein rohe Gesinnung angeeignet«.[1] Der Historiker Philipp Krauer hat unlängst anhand dieses Falls daran erinnert, dass Schweizer Söldner »in fremden Diensten« ihre in kolonialen Kontexten aus- und eingeübten Gewaltpraktiken nicht einfach zurückließen, sondern auch wieder in irgendeiner Form zurück in ihre Heimat brachten.[2] Damit unterläuft der von Krauer hervorgehobene Fall die traditionelle eurozentrische Erzählung von einer »fernen« Gewalttätigkeit in den Kolonien. Koloniale Kontexte waren von Gewalt geprägt und wirkten in ihre Herkunftsgemeinschaften zurück. Im Zeitraum von 1815 bis 1914 dienten rund 7600 Schweizer Söldner allein in der niederländischen Kolonialarmee und »zählten zu den wichtigsten Stützen eines kolonialrassistischen Gewaltregimes«.[3] Der Fall Jeker eröffnet jedoch auch einen Blick darauf, wie die Gewalt eines Söldners zeitgenössisch erklärt und wie seine durch koloniale Erfahrungen geprägte »rohe Gesinnung« als Begründung für die Gewalttaten akzeptiert wurde. Die Dramatik erhielt dieser Mord in den zeitgenössischen Medien gerade vor dem Hintergrund der fernen Kolonialkriege. Gleichsam »mitgebrachte« koloniale Gewalt war in diesem Fall in der schweizerischen Gesellschaft durchaus nicht-alltäglich.

Doch wird in dieser Sichtweise Gewalt in Kolonien normalisiert – es ist die Alltagsgewalt in den Kolonien, die letztlich zu einem nicht-alltäglichen Gewaltereignis in der Schweiz führt. Dieses hier sichtbare historische Bewusstsein für die physische Gewaltsamkeit von Kolonialalltag war durchaus nicht immer offen anerkannt oder ausgesprochen, wie die folgenden Beiträge zeigen werden, und auch in der historiografischen Diskussion erweist sich eben dieser Aspekt immer wieder als problematisch.

Den geschichtswissenschaftlichen Umgang mit Gewalt prägten immer auch historische Kategorisierungen von Gewaltformen und -praktiken. Krieg und Eroberung, Konsolidierung, Massaker – Gewaltgeschichte ist voller logischer Gruppierungen gewaltsamer Ereignisse. Was jedoch analytisch oft fehlt, ist das, was auch die Gewalt der Gegenwart so schwer fassbar macht: Normalisierung, die Alltäglichkeit von Gewalt jenseits – buchstäblich – klarer Fronten. Dies ist ein geschichtswissenschaftliches Problem, sowohl in Hinblick auf Alltagsgewalt in vergangenen Gesellschaften, ganz zentral in kolonialen Kontexten, aber auch in Hinblick auf deren Darstellung und Vermittlung in der Historiografie.

Das Nachbarfach Soziologie etwa beschäftigt sich aktuell mit der Frage, inwiefern die Visualisierung von Gewalt durch moderne Aufzeichnungstechniken die Beschreibungsbias von Gewalterfahrungen durch involvierte Akteur*innen nur verschiebt und gerade nicht zu objektivieren vermag. Im musealen Kontext wiederum wird die kritische Reflexion von Praktiken der Zurschaustellung von Gewalt heute erneut intensiv diskutiert.[4] In den Geschichtswissenschaften selbst jedoch zeichnen sich solche methodischen, epistemologischen und darstellerischen Grundsatzreflexionen des Fachs nur wenig ab.[5] Zwar beschäftigt körperliche Gewalt als historisches Problem die Geschichtswissenschaften nicht erst seit den 1980er Jahren, jedoch hat dieses vermehrte Interesse an historisch-anthropologischen Perspektivierungen von Gewalt kaum zu einer intensiveren Auseinandersetzung mit Gewalt als epistemologische, methodische und darstellerische Herausforderung geführt. Gerade im Kontext der europäisch-historiografischen Beschäftigung mit kolonialer Gewalt zeigen sich erstaunliche Leerstellen. Es scheint, so eine der im Heft vertretenen Thesen, dass sich insbesondere die Kolonialgeschichtsschreibung der Vormoderne selbst wenig explizit mit den eigenen methodischen Voraussetzungen und narrativen Konventionen ihrer Darstellung auseinandergesetzt hat.

Angesichts der oft sehr ernsthaften und überzeugten Bemühungen europäischer Historiker*innen in Richtung eines »Unlearning Imperialism«[6] und einer möglichst dekolonialen historischen Aufarbeitung sowie der deutlichen, globalen Wirkmacht, die vergangene koloniale Gewalt nach wie vor inne hat, sind diese Leerstellen dringend zu adressieren.

Im vorliegenden Heft geht es um konkrete, physische Gewalt, die gerade nicht durch zeitlich abgrenzbare Großereignisse jenseits alltäglicher Routinen augenfällig wird,sondern ganz im Gegenteil durch ihre Permanenz und Alltäglichkeit. Koloniale Quellen aus unterschiedlichsten Kontexten legen nahe, dass die Exzesshaftigkeit, die koloniale Gewalt und Brutalität so oft kennzeichnete, keineswegs den Einzelfall darstellte. Koloniale Gewalt war geprägt von routiniertem Exzess, weit entfernt von den Maßstäben, die alltägliche Gewaltanwendung regulieren sollten – sowohl in der Metropole als auch in den Kolonien. Dies spiegelt sich jedoch nur höchst begrenzt in der geschichtswissenschaftlichen Auseinandersetzung und Darstellung. Dort erscheint körperliche Gewalt, die sowohl zentraler Ausgangspunkt als auch Kernpraxis kolonialer Herrschaft war, oft als schlichte Setzung. Sie wird als Grundbedingung hingenommen, als zeitgegebenes Mittel im Kampf um Hegemonie und Kapital, das im Gegensatz zu anderen Formen wie etwa epistemische, psychische oder sprachliche Gewalt nur wenig spezifische Auseinandersetzung erfordert. Es scheint, als wäre allgemein bekannt, was Gewalt ist und weshalb bzw. auf welche Weise sie zur Anwendung kam.

Dies greift jedoch bedenklich kurz; es macht körperliche Gewalt zu einer Selbstverständlichkeit, deren Ausformung und Sinn nicht herausgearbeitet und ausformuliert werden muss. Es ignoriert die vielfältigen Dimensionen körperlicher Gewalt, die im Kolonialalltag stattfanden, und neigt dazu, die Gewaltausübungen vieler kolonialer Akteur*innen jenseits von Militär und staatlichen Autoritäten schlicht zu übersehen.

Dies macht tatsächliche Aufarbeitung unmöglich. Dieses Heft leistet einen Beitrag zur Adressierung diverser solcher Leerstellen und versammelt drei kolonialhistorische Beiträge, die Gewalt und ihre Darstellungsherausforderung aus verschiedenen Perspektiven beleuchten und reflektieren. Dabei sollen neue Ansätze in der historischen Gewaltforschung zur Diskussion gestellt werden. Ein Beitrag fokussiert dezidiert historische Erfahrungen von körperlicher Kolonialgewalt außerhalb kolonialer Settings. Zwei weitere Beiträge widmen sich expliziter methodologisch-theoretischen Fragestellungen und greifen die oben beschriebenen historiografischen Probleme anhand spezifischer historischer Gewaltsituationen (Gewalt an Tieren bzw. »tierisch/tierliche« Gewalt, Alltagsgewalt in der atlantischen Sklaverei) auf.

Alle drei Texte adressieren vor allem europäische Kolonialgewalt. Dies liegt nicht etwa daran, dass Europäer*innen ein historisches Monopol auf Kolonialgewalt beanspruchen könnten, sondern daran, dass europäische Kolonialgewalt innerhalb der westlichen Gewaltgeschichtsschreibung stark im Fokus steht, weshalb Probleme und Leerstellen hier besonders augenfällig werden.

Im ersten Beitrag untersucht Sarah von Hagen die Gewalterfahrungen von Schwarzen Menschen in der Royal Navy des 18. Jahrhunderts und bricht perspektivisch die starken, bisweilen sogar rigiden historiografischen Narrative um Gewaltanwendung in der britischen Marine auf, die dieses Feld dominieren. Ihr Beitrag verdeutlicht die Notwendigkeit, koloniale Gewalt epistemisch überall dorthin zu verfolgen, wo sie geschah, auch und gerade in Konfrontation mit etablierten geschichtswissenschaftlichen Vorstellungen von Gewalt innerhalb eines spezifischen Kontextes.

Isabelle Schürch fragt in ihrem Beitrag danach, was sich an den eingeschliffenen »Conquista«-Historiografien ändert, wenn eine human-tierliche Perspektive eingenommen wird. Die spanisch-Mexica und spanisch-Maya Invasionskriege (ca. 1519–1539), so ihr Plädoyer, sollen nicht ohne ihre »mehr als menschliche« gewaltförmige Körperlichkeit und auch nicht ohne die körperlichen Gewalterfahrungen, die sowohl zeitgenössisch wie historiografisch narrativ verarbeitet wurden, verstanden werden.

Im dritten Beitrag adressiert Annika Raapke die bestehende Problematik der Handhabung von Alltagsgewalt in der atlantischen Sklaverei, bespricht methodische, ethische und politische Herausforderungen und stellt Überlegungen zu möglichen Lösungsstrategien an. Ihr Beitrag hinterfragt zentral die historiografische Tendenz zur Rationalisierung von Gewalt und spricht sich dafür aus, die Unerklärbarkeit bestimmter Gewaltformen zu akzeptieren.

In unserer Rubrik Debatte diskutieren diesmal Jana Kristin Hoffmann und Philipp McLean über die Vermittlung von Geschichtstheorie in der universitären Lehre; sie plädieren dafür, diese durchgängig in alle Lehrveranstaltungen miteinzubeziehen, statt sie ausschließlich in sogenannten Theorieseminaren zu behandeln.

In der Werkstatt nimmt uns Stefan Zeppenfeld mit auf die ersten bundesdeutschen Flohmärkte der späten 1960er und1970er Jahre. Er geht der Frage nach, inwieweit es sich dabei um neue Räume für ein alternatives Freizeitvergnügen handelte und welche Verbindungen es zur 68er-Bewegung gab.

Angenehm warme Füße verspricht der Artikel in unserer kleinen Objekt-Rubrik Dingfest. Alice Anna Schröder-Klaassen zeigt auf, wie ein zu diesem Zweck genutzter funktionaler Alltagsgegenstand als »Liebling der Damen« seit dem 16. Jahrhundert obendrein zu einem verbreiteten Motiv auf Gemälden der alten Meister des Barocks wurde.

Für die Expokritik unternahmen einige Mitglieder unserer Rezensionsredaktion einen Ausflug in die Dauerausstellung des Stadtmuseums Frankfurt a.M., das seit 2017 in einem neuen Haus untergebracht ist. Andreas Ludwig hat sich den Bereich des »Sammlermuseums« genauer angeschaut und berichtet darüber, was die Frankfurter Bürger*innen alles sammelten und was sich hinter dem »13.Sammler« verbirgt.

Annika Raapke, Isabelle Schürch und die Redaktion

 

[1] Philipp Krauer, Der Dreifachmord von Bärschwil, in: Blog des Schweizerischen Nationalmuseums vom 4. Oktober 2021, https://blog.nationalmuseum.ch/2021/10/dreifachmord-von-baerschwild (letzter Zugriff 5.4.2024). Zur Geschichte der Schweizer Kolonialsöldner in Indonesien siehe Philipp Krauer, Swiss Mercenaries in the Dutch East Indies. A Transimperial History of Military Labour (1848–1914), Leiden 2024.

[2] Krauer, Dreifachmord.

[3] Philipp Krauer, Schweizer Söldner in der niederländischen Kolonialarmee, in: Blog des Schweizerischen Nationalmuseums vom 27. September 2021, https://blog.nationalmuseum.ch/2021/09/soeldner-in-indonesien (letzter Zugriff 5.4.2024).

[4] Siehe etwa Zuzanna Dziuban/Stefan Benedik/Ljiljana Radonić (Hg.), Displaying Violence, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 34 (2023) 1, S. 7–17, https://doi.org/10.25365/oezg-2023-34-1-1 (letzter Zugriff 5.12.2023).

[5] Vgl. dazu das aktuelle Schwerpunktheft Visibilities of Violence: Microscopic Studies of Violent Events and Beyond, hg. von Thomas Hoebel/Jo Reichertz/René Tuma, in: Historical Social Research/Historische Sozialforschung 47 (2022) 1, https://www.gesis.org/en/hsr/full-text-archive/2022/471-visibilities-of-violence (letzter Zugriff 5.4.2024).

[6] Begriff von Ariella Aïsha Azoulay, siehe dies., Potential History. Unlearning Imperialism, New York 2019.