Editorial: Nr. 57 | arbeit begrenzen entgrenzen

cover-057 Anjezë Gonxhe Bojaxhiu wäre im vergangenen Jahr einhundert Jahre alt geworden. Die unter dem Namen Mutter Teresa (1910–1997) bekannte katholische Ordensgründerin ist mittlerweile seliggesprochen und wird von der katholischen Mission mit bewusster Referenz auf ihren universalen und medialen Charakter als »Ikone der Nächstenliebe« neu inszeniert.[1] Zu ihren Lebzeiten war Mutter Teresa vor allem als Entwicklungshelferin und für ihre humanitäre Arbeit unter den Armen Indiens bekannt. Ihr Glaube an das Leiden Christi, dem sie durch absolute Opferbereitschaft nachfolgen wollte, war hingegen kaum Thema in der öffentlichen Darstellung ihrer Person und Arbeit. In den 1990er Jahren mehrte sich die Kritik an den Praktiken ihres Ordens, dem Gegner beispielsweise einen wenig effizienten Umgang mit Spendengeldern, mangelnde Hygiene in den sozialen Einrichtungen und fehlenden Einsatz moderner wissenschaftlicher Heilmethoden vorwarfen.[2] Die Diskussion um die ethische Bewertung der Person Mutter Teresas ist Teil eines historischen Phänomens, nämlich der Globalisierung des sozialen und humanitären Feldes und der besonderen Rolle, die christliche Missionen in der Vernetzung und Organisation einer weltweiten Hilfs- und Rettungsbewegung spielten und spielen. Ähnlich wie die christlichen Kirchen im Europa des 19. Jahrhunderts sich zu Experten der Sozialen Frage entwickelten, etablierten sich ihre Missionarinnen und Missionare zu Experten des kulturellen Kontakts, der Wissensvermittlung und der humanitären Hilfe in den europäischen Kolonien in Afrika, Asien und Ozeanien sowie den unabhängigen Staaten Südamerikas. Sie bauten Institutionen für den Transfer sozialen Wissens und personale Netzwerke für den kulturellen Austausch auf, ebenso wie Krankenhäuser, Schulen und Kirchengemeinden. Sie gestalteten den Kontakt zwischen europäischen und nicht-europäischen Gesellschaften und strukturierten die neu entstehenden »Dritten Räume« (Homi Bhabha) auf ganz spezifische Weise mit. So lautet zumindest eine Hypothese, die dieses Themenheft anhand ausgewählter Fallbeispiele prüfen will. Religiöse Akteurinnen und Akteure begriffen ihre Arbeit immer auch als Glaubenspraxis. Zugleich waren Missionen Teil einer versuchten Europäisierung von Gesellschaften in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Die Mission wurde von Kolonisatoren oftmals als Chance gesehen, Gehorsam, Disziplin und Arbeitskraft der Kolonisierten verfügbar zu machen.[3] Sich des Christentums zu bedienen, konnte für die Kolonisierten aber zugleich eine Chance zur Verbesserung der eigenen Lebensumstände bedeuten. Die Sprache der Evangelien konnte damit zur »claims making device«[4] werden, einem Instrument, um Ansprüche zu stellen und zu argumentieren. Auf Basis dieser Vorüberlegungen lassen sich einige Fragen stellen, die das Thema Soziale Missionen präzisieren helfen: Welche religiösen und politischen Ideologien wurden von den Missionen propagiert? Welche Selbsterzählungen produzierten die Akteure der Mission? Wie wandelten sich die sozialen Praktiken des ›Helfens‹? Welche Formen des Wissenstransfers lassen sich erkennen? Und welchen Einfluss hat(te) Mission darauf, wie nicht-europäische Gesellschaften wahrgenommen wurden? Welche Formen des kulturellen (Miss-)Verstehens produzierten sie und welche unterschiedlichen Bedeutungen trugen die sozialen Missionen je nach Akteurin oder Akteur? Untersucht man die hier gestellten Fragen, gilt es sich allerdings von etablierten Forschungslinien zu verabschieden, von denen einige auf der Trennung von »religiös« und »säkular« beruhen. Missionarinnen und Missionare waren nicht einfach eine weitere Ausformung des Typus‘ des ›Zivilisierers‹, Mission lässt sich nicht auf den Aspekt der ›Zivilisierungsmission‹ reduzieren.[5] Religiöse Ziele – Konversion von ›Heiden‹ oder ›Aufopferung‹ als Glaubenspraxis – waren von politischen und sozialen nicht zu trennen. Sie standen in einem Spannungsfeld zueinander und können nur in ihrer Relation untersucht werden. Deshalb ist nicht von einem kohärenten Modernisierungs- und Säkularisierungsprozess auszugehen, der schon seit dem 18. Jahrhundert nicht nur eine Ausdifferenzierung zwischen religiöser und sozialer Sphäre bewirkte, sondern sogar einen kontinuierlichen Bedeutungsverlust des Religiösen. Die Beiträge dieses Heftes ordnen sich in einen generellen Trend jüngerer geschichtswissenschaftlicher Forschungsarbeiten ein, die Wirkungen religiöser Denk- und Handlungsmuster bis ins 20. Jahrhundert hinein sichtbar machen.[6] Missionsgeschichte ist seit längerem nicht mehr allein den Missionen und der Kirchengeschichte vorbehalten. Ab den 1970er Jahren war sie Teil einer sozial- und politikgeschichtlichen Forschung zum Kolonialismus und wurde als Aspekt eines umfassenden Kulturimperialismus begriffen.[7] Dieser stellte demnach den Überbau einer ökonomischen und politischen Unterjochung vieler Gebiete durch die europäischen Kolonialmächte dar. Unter dem Einfluss kulturwissenschaftlicher Forschungsansätze wird seit den 1990er Jahren zunehmend die Rolle von Missionen für die Ausbildung kolonialer und metropolitaner Identitäten – und nicht zu vergessen ihrer geschlechterspezifischen Kodierung – betont.[8] Neben dem cultural othering europäischer Akteure wird die Aneignung des Christentums außerhalb Europas nicht nur im Sinne einer bloßen Inkulturation, sondern als kreativer Prozess der Übersetzung und Ermächtigung seitens der Konvertiten hervorgehoben. Wichtige Arbeiten haben in jüngster Zeit die Bildung personaler und institutioneller Netzwerke wie auch den Wissenstransfer in den Fokus gerückt.[9] Aufbauend auf diese Forschungslage widmet sich dieses Heft einem speziellen Feld missionarischer Arbeit und Expertise – dem sozialen.[10] Damit sind nicht nur die Tätigkeiten in Bereichen wie Wohlfahrt, Bildung oder Gesundheit gemeint, sondern auch die Wahrnehmungen und Konzeptionen der Missionarinnen und Missionare – ihre spezifische Perspektive auf eine globale Soziale Frage. Typischer Weise wurde diese im 19. und auch noch im 20. Jahrhundert als Zivilisierungs- und später Entwicklungsrückstand einzelner Gesellschaften oder Bevölkerungsschichten begriffen, der im Abgleich mit den vermeintlich am weitesten fortgeschrittenen westeuropäischen Industriegesellschaften identifiziert werden konnte. Für religiöse Akteure galt das Christentum dabei als integraler Bestandteil dieser vermeintlichen Superiorität des europäischen Modells. Soziale Missionen verbinden nationales bzw. (neo-)europäisches mit christlichem Sendungs­be­­wusst­­­sein und Empathie über große räumliche Distanz[11] zu einer global ausgerichteten, asym­met­risch und eurozentrisch formulierten »Kultur des Helfens«. Allerdings gilt es bei den früheren, euro­päischen Sozialen Missionen für die Misstöne, die unwillkürlichen Botschaften und die Brüche in den Erzählungen hellhörig zu sein. Die Selbstdarstellungen und Selbsterzählungen der Missionare stimmten sehr wahrscheinlich nicht mit der Wahrnehmung der zu Missionierenden und der Adressaten der sozialen Hilfspro­gramme überein. Aber auch zwischen der narrativen Identität, der Selbsterzählung der Missionarinnen beziehungsweise Missionare und der Darstellung ihrer Tätigkeit in der Heimatöffentlichkeit besteht eine Differenz, in der sich die Übersetzungsleistung der missionari­schen Akteure ebenso wie die Erwartungshaltung europäischer Rezipien­ten manifestiert. Julia Hauser wendet sich im ersten Beitrag des Hefts der Erziehungsarbeit der Kaiserswerther Diakonissen in Beirut zu. Die europäischen Akteurinnen aus dem Umfeld des deutschen erweckten Protestantismus kamen infolge der sogenannten syrischen Massaker von 1860 in den Libanon. Hauser untersucht, inwiefern eine humanitäre Katastrophe dazu diente, ein in und für Deutschland entwickeltes missionarisches Konzept in einem nicht-europäischen Einsatzfeld zu praktizieren. Sie zeigt, wie sich die­ses Konzept aufgrund seines inhärenten Eurozentrismus und lokaler Aushand­lungs­prozesse wandelte, um missionarisches Arbeiten zu ermöglichen, und inwiefern dieser Wandel der deutschen Öffentlichkeit zu vermitteln war. Die Kaiserswerther Diakonie verfolgte die Idee der Regeneration der Gesellschaft über die Familie. In den Niederlassungen im Libanon galt allerdings als Voraussetzung für den Erfolg paradoxerweise eine familiäre Dekontextualisierung von Kindern: Um sie in Waisenhäusern einer christlichen Lebensweise zuzuführen, mussten sie aus ihren Familien herausgenommen werden. Soziale Missionen bezogen sich keineswegs nur auf eine asymmetrische, bipolare Beziehung zwischen europäischen und außereuropäischen Akteuren. Sie waren in ein komplexes Ge­flecht von Austauschprozessen eingebunden. So orientierten sich auch religiöse Akteure in den unabhängigen lateinamerikanischen Staaten an Europa, übernahmen Konzepte religiöser Sozialpolitik und fügten sie zu einem neuen, eigenen Verständnis gesellschaftli­cher Modernität zusammen. Thomas Gerdes analysiert in seinem Beitrag zur Katholischen Aktion und zur Sozialen Frage in Buenos Aires um 1900 den Transfer und die Rezeption sozialkatholischen Wissens und zeigt detailliert, wie die in Italien und Deutschland entwickelten Ideen und Praktiken von Laien, Priestern und der Kirchenleitung an die sozio-ökonomischen und politischen Kontexte der argentinischen Klassengesellschaft und ihrer Konflikte angepasst wurden. Dabei zeigt sich, wie der Wissenstransfer durch nationale und transnationale Faktoren gleichzeitig strukturiert wurde – ein­seitig transnationale Erklärungsmuster können genauso hinterfragt werden wie einseitig nati­onale. Alexandra Przyrembel untersucht am Beispiel Johann Hinrich Wicherns eine soziale Reformbewegung, die unter dem Namen Innere Mission zu den entscheidenden Stichwortgebern des Wohlfahrtswesens in Deutschland wurde. Wie mit einer Lupe lässt sich die mediale Inszenierung der Inneren Mission von der ›Sündhaftigkeit‹ der städtischen Unterschichten an den Reisebriefen Wicherns analysieren. Ebenso werden durch sie die Wege des Transfers von sozial-religiösen Wissensbeständen und Praxis zwischen England und Deutschland sichtbar. Die Kulturen des Helfens und die Politiken der Sozialen Frage wurden nicht nur auf außereuropäische Gesellschaften, sondern gleichzeitig auf einzelne Gruppen und Schichten der jeweils eigenen Gesellschaft bezogen. Die protestantische Innere Mission und ihr Gründer Wichern sind dafür ein Paradebeispiel. Frédéric Graber analysiert im Mittelteil die Bewilligungsverfahren für Projekte der Staatsverwaltung für öffentliche Bauten in Frankreich im 18. und 19. Jahrhundert. Er betrachtet Projekte dabei als einen stark institutionalisierten Prozess, in dem nicht der einzelne Entwickler, sondern die kollektiven und regelhaften Formen im Mittelpunkt stehen. Dadurch wird ein Rahmen entwickelt, mit dem Projekte zukünftig besser als sozio-historische Phänomene untersucht werden können. Für unsere Filmkritik hat sich Brigitte Reinwald noch einmal die Dokumentation The Halfmoon Files aus dem Jahr 2007 angeschaut. Ausgangspunkt für Filmemacher Philip Scheffner waren nicht wie sonst üblich historische Film-, sondern vielmehr Tonaufnahmen: Stimmen gefangener indischer Kolonialsoldaten, aufgezeichnet während des Ersten Weltkriegs im sogenannten Halbmondlager Wünsdorf bei Berlin, ohne Übersetzung und ohne Hinweise auf das weitere Schicksal derer, die einst für preußische Wissenschaftler in den Phonographentrichter sprechen mussten. Wie, so fragt Brigitte Reinwald, lässt sich anhand dieser Geisterstimmen zum Schweigen Verurteilter eine andere Geschichte des Ersten Weltkriegs erzählen, und zu welchen Reflexionen lädt ein Film ein, wenn er weder eine Geschichte (nach)erzählen kann noch den BetrachterInnen die gewohnte Einheit von Bild und Ton bietet? Eckhard Bolenz hat die Ausstellung »Napoleon und Europa. Traum und Trauma« in der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland in Bonn besucht. Bolenz sieht das Faszinierende der Ausstellung vor allem im gegenüberstellenden Arrangement von Kunst und Artefakten des (Kriegs-)Alltags. Zudem setzt er die Ausstellung in den Kontext einer ganzen Reihe deutscher wie französischer Ausstellungen über die Französische Revolution und die napoleonische Epoche.

Richard Hölzl und die Redaktion


Anmerkungen:

[1] Missio. Internationales Katholisches Missionswerk e.V., Hommage an die »Ikone der Nächstenliebe«. Mutter Teresa: http://www.missio.de/de/aktionenundkampagnen/monat-der-weltmission/2010-3/mutterteresa/ausstellung.html; zuletzt eingesehen am 13.5.2011.

[2] Vgl. zur Biografie Marianne Sammer, Mutter Teresa. Leben, Werk, Spiritualität, München 2006; Norbert Göttler, Mutter Teresa, Reinbek bei Hamburg 2010. Mutter Teresa wuchs in einer albanischen Kaufmannsfamilie in Skopje auf, die der katholischen Minderheit angehörte. Sie besuchte eine katholische Mädchenschule und gehörte schon als Kind einer jesuitennahen marianischen Kongregation an. 1928 trat sie in Irland als Bewerberin bei den Loreto-Schwestern von Mary Ward ein. Noch im selben Jahr reiste sie nach Indien und legte 1937 das »ewige Gelübde« ab. 1948 trat sie aus dem Orden aus und gründete die Gemeinschaft der »Missionarinnen der Nächstenliebe«. Heute unterhält ihr Orden über 700 Heime für Lepra- und HIV-Kranke, Obdachlose, Waisen und Sterbende.

[3] Vgl. etwa Jean Comaroff, Missionaries and Mechanical Clocks: An Essay on Religion and History in South Africa, in: The Journal of Religion 71 (1991), S. 1–17, insb. S. 1f., 16f.

[4] So Frederick Cooper, Colonialism in Question. Theory, Knowledge and History, Berkeley u.a. 2005, S. 146–147, allerdings mit Bezug auf die Gewerkschaftsbewegung des Spätkolonialismus in Afrika.

[5] Als solche, wenn überhaupt, firmieren sie in der Globalgeschichte und auch in der Globalethnologie. Jürgen Osterhammel verweist zwar auf das Problem der Dekontextualisierung der Arbeit von Missionen. Für seine Konzeption von Zivilisierungsmissionen spielt dies allerdings keine Rolle. Vgl. Jürgen Osterhammel: »The Great Work of Uplifting Mankind«. Zivilisierungsmission und Moderne, in: Boris Barth/Jürgen Osterhammel (Hg.), Zivilisierungsmissionen. Imperiale Weltverbesserung seit dem 18. Jahrhundert, Konstanz 2005, S. 363–425, hier S. 410–411 und Arjun Appadurai, Fear of Small Numbers. An Essay on the Geography of Anger, 2006, S. 119.

[6] Vgl. den Überblick von Rebekka Habermas, Piety, Power, and Powerlessness: Religion and Religious Groups in Germany 1870–1945, in: Helmut Walser Smith (Hg.), Oxford Handbook of Modern German History [im Erscheinen].

[7] Vgl. etwa Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit 1884–1914 unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas, Paderborn 1982.

[8] Vgl. etwa Catherine Hall, Civilising Subjects. Metropole and Colony in the English Imagination 1830–1867, Chicago 2002.

[9] Vgl. den Forschungstand zu Missionen im 19. Jahrhundert und zum Begriff des ›religiösen Netzwerks‹ in: Rebekka Habermas, »Mission im 19. Jahrhundert – Globale Netze des Religiösen«, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), S. 629–676 und zum Wissenstransfer dies., Wissenstransfer und Mission. Sklavenhändler, Missionare und Religionswissenschaftler, in: Geschichte und Gesellschaft 36 (2010) 2, S. 257–284 sowie Patrick Harries, Butterflies and Barbarians: Swiss Missionaries and Systems of Knowledge in South-East Africa, Oxford/Harare/Athens, Ohio 2007.

[10] Vgl. zur Ideengeschichte des sozialen Feldes in Deutschland das Handbuch von Helga Grebing (Hg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus – Katholische Soziallehre – Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Wiesbaden 22005.

[11] Vgl. Michael Ignatieff, Die Zivilisierung des Krieges. Ethnische Konflikte, Menschenrechte, Medien, Hamburg 2000, S. 7–9.

 

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