Editorial: Nr. 59 | sichtbar/verborgen

cover-059 ›sichtbar/verborgen‹ – Diskurse über ›Rasse‹ in der Moderne

Rassen, argumentierte der in Princeton lehrende britisch-ghanaische Philosoph Kwame Anthony Appiah vor gut zwei Dekaden in seinem preisgekrönten Essayband »In my Father’s House«, gibt es nicht. Der Begriff sei fatal, weil er Kulturen und Ideologien biologisiere. Die Probleme etwa »der Schwarzen« seien nur zu lösen, so Appiah weiter, wenn sie nicht als Produkt eines vermeintlichen Andersseins gedeutet werden, sondern als menschliche Probleme, die aus einer spezifischen Situation erwachsen.[1] Appiah wusste sich einig mit den Naturwissenschaften, dass jede biologische Grundlage für die Einteilung der Menschen in »Rassen« fehlt. Der Begriff ›Rasse‹ war jedoch nicht nur eine der zentralen Kategorien des 19. und 20. Jahrhunderts, auch zu Beginn dieses Jahrhunderts bleibt das Reden über Rasse ein zentrales Signum gesellschaftlicher Diskurse und Konflikte. Das Themenheft ›sichtbar/verborgen‹ sucht Anschluss an die methodischen Konzepte, wie sie vor allem in den Vereinigten Staaten im Gefolge des cultural turn über die Frage von ›race‹ und die Farbe ›weiß‹ diskutiert werden. Ausgehend von der These, dass mit dem Rassismus Sichtbares und Verborgenes miteinander verwoben ist, fragt dieses Themenheft nach den Kontinuitäten und Diskontinuitäten des Konstrukts ›Rasse‹ für das 19. und 20. Jahrhundert. Das Denken in Rassekategorien wird in der Regel als distinkt westliche Erfindung angesehen, die im Laufe der imperialen Expansion die anderen Weltteile erreichte. Gegen diesen Ansatz haben einige jüngere Studien im Bereich der afrikanischen Geschichte behutsam Widerspruch eingelegt und herausgestellt, dass das Sprechen von Afrikanern über Rasse keineswegs als aus der Kolonialzeit herrührendes »falsches Bewusstsein« abgetan werden darf. Es gibt, so die These, in Afrika eine Geschichte des Rassenkonzepts, die nicht kolonialen Logiken gehorcht. Freilich gab es in Afrika weder einen Arthur de Gobineau noch einen Herbert Spencer. Und das Denken in Kategorien der Rasse war in Afrika – wie in Europa – keineswegs kohärent; die konkreten Effekte dieses Denkens auf die sozialen Beziehungen der Menschen gestalteten sich höchst unterschiedlich.[2] Hier knüpft die Frage nach den sichtbaren und verborgenen Dimensionen des Konzeptes ›Rasse‹ an. Die Spannung sichtbar/verborgen geht von der Beobachtung aus, dass die Vorstellungen über ›Rasse‹ in der historischen Praxis – auch außerhalb des ›Westens‹ – immer wieder neu verhandelt werden. Dieser Aushandlungsprozess wird von Wahrnehmungen des Körpers gleichermaßen geprägt wie ihm Diskurse über gesellschaftliche Ungleichheiten (wie Klasse und Gender) immanent sind.[3] Angesichts der Vielzahl neuerer historischer Studien zu diesem Themenkomplex ist es ein Anliegen des Themenheftes, Perspektiven der Kolonialgeschichte wie der deutschen und außereuropäischen Geschichte zusammenzuführen, um die transnationale Dimension sowie die Widersprüche und Linearitäten der Kategorie ›race‹ vor allem im Hinblick auf die soziale Praxis in den Blick zu nehmen.[4] Das Themenheft greift Fragestellungen auf, die bereits – wenn auch mit einem anderen Schwerpunkt – Gegenstand eines Heftes von WERKSTATTGESCHICHTE waren: die Frage nach der Wirksamkeit von Diskursen über ›Rasse‹ am Beispiel von ›whiteness‹ in der Moderne.[5] Alf Lüdtke und Stefan Mörchen haben in ihrem Editorial zu dem von ihnen herausgegebenen Heft ›die farbe ›weiß‹‹ (2005) auf die Spezifika der neuzeitlichen »Formen des Wissens« und die Bedeutung von naturwissenschaftlichen Praktiken und Kriterien hingewiesen, die den »massenmordenden Rassismus« der Kolonialzeit und des Nationalsozialismus möglicherweise mit »angetrieben« hätten.[6] Die Herausgeber problematisierten die Irritationen und »Suggestion[en] des Augensinns«[7] durch die sichtbare Festlegung rassischer Differenz.[8] Das Themenheft ›sichtbar/verborgen –Diskurse über ›Rasse‹ möchte im Anschluss an die Überlegungen von Lüdtke und Mörchen die Frage nach jenem Austauschprozess ›sichtbarer‹ und ›verborgener‹ Kriterien weiter vertiefen, der im 20. Jahrhundert in spezifischen zeitlichen und kulturellen Kontexten – im Deutschen Kaiserreich, im (post-)kolonialen Afrika, in den amerikanischen Südstaaten – zu einer (Neu-)Bestimmung rassisch begründeter Differenz führte und in manchen Fällen Akte physischer Gewalt legitimierte. Die Beiträge des Themenheftes zeigen, dass die Kategorie ›Rasse‹ auf einem komplizierten Prozess von Zuschreibungen beruht. Sie thematisieren das breite Spektrum potentiell möglicher Erscheinungsformen der Vorstellungen von ›Rasse‹. So werden die (Selbst-)Zuschreibungen, die komplizierten Aneignungen oder auch die performativen Dimensionen des ›Rassenbegriffes‹ untersucht. Gleichermaßen analysiert werden die Grenzziehungen zwischen ›weiß‹ und ›schwarz‹ aufgrund rassistischer Zuweisungen vor Gericht. Darüber hinaus wird die Frage nach möglichen Entwicklungslinien, nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten und den Brüchen des ›Rassebegriffs‹ verfolgt, wie sie in der Moderne zu beobachten sind. Im Zentrum stehen historische Akteure und Akteurinnen, die wie beispielsweise Missionare und Entwicklungshelfer an der Schnittstelle europäischer und außereuropäischer Gesellschaften agierten. Sie engagierten sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus religiösen und humanitären Beweggründen für die ›Zivilisierung‹ der afrikanischen Bevölkerung. Mit diesen ›global players‹ ist das zentrale Anliegen des geplanten Themenheftes benannt: Es soll die transnationale Dimension des ›Rassenbegriffes‹ aufgezeigt werden.[9] Diese Perspektive wird nicht allein auf der Ebene der historischen Akteurinnen und Akteure oder der sozialen Praxis der Missions- und Entwicklungsarbeit in (post-)kolonialen und anderen außereuropäischen Räumen, sondern ebenso auf der Ebene der theoretischen Debatte diskutiert. Hier wird auch ein Konzept von Rasse sichtbar, welches die Fixierung auf wissenschaftliche Doktrinen aufgibt und Rassedenken als ein sich ständig verschiebendes diskursives Feld deutet, in dem Rassismus und rassistisch begründete Gewalt nur zwei mögliche Formen darstellen. Richard Hölzl nimmt in seinem Artikel Rassismus, Ethnogenese und Kultur. Afrikaner im Blickwinkel der deutschen katholischen Mission im 19. und frühen 20. Jahrhundert eine spezifische Gruppe historischer Akteure und Akteurinnen in den Blick: Gemeint sind die katholischen Missionare, die in Afrika und an anderen Orten dieser Welt das Christentum, und ebenso – ihrer eigenen Wahrnehmung nach – die europäische Zivilisation verbreiten wollten. Dieser Blick auf Missionare ist hier aus zwei Gründen von besonderem Interesse: Als ›global players‹ waren die Missionare bedeutende Produzenten und Vermittler von Wissen über Lebensweisen und religiösen Praktiken, die ihnen genauso fern waren wie den meisten Europäerinnen und Europäern. Gleichzeitig ging die Missionsarbeit von der Prämisse aus, dass genau diese Bevölkerungsgruppen das Christentum für sich entdecken müssten. Diese Widersprüche greift Hölzl auf, indem er sich sowohl mit den normativen Prämissen eines biblisch-theologischen Rassismus als auch mit den praktischen Dimensionen katholischer Missionsarbeit im östlichen Afrika auseinandersetzt. Auf der Grundlage der für das colonial archive so bedeutenden Fotografien analysiert der Beitrag, wie sich im Visuellen die Grenzbereiche von Diskursen materialisieren. In der bildlichen Darstellung des Missionars und seines Gegenübers zeige sich ein ›Rassismus unter vorgehaltener Hand‹. Im Mittelpunkt des Beitrags ›The Native Mind‹ – Rassismus in den ›Humanitären Entwicklungswissenschaften‹ zu Afrika südlich der Sahara 1920–1940 von Hubertus Büschel steht wiederum eine spezifische Gruppe weißer Männer: Experten, die sich unter dem Schirm der ›Humanitären Entwicklungswissenschaften‹ zusammenfanden und die sich von dem Rassismus vorheriger Generationen kolonialer Entwicklungsexperten explizit abgrenzten. In transnationaler Kooperation begründeten Kolonialbeamte, Missionare, Anthropologen, Psychologen und Agrarökonomen seit dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts die neue Disziplin der ›Entwicklungswissenschaft‹. Paradoxerweise bildeten gerade diese Experten ganz neue Formen des Rassismus heraus, indem sie auf kulturelle Differenzen und Eigenheiten abhoben. Obgleich also die Entwicklungsexperten Rassenkonzepte kritisch reflektierten, brachten sie neue Formen von ›Kulturrassismen‹ hervor. Am Beispiel der Massai in Tanganjika untersucht Büschel diese Verflechtungen ›humanitärer‹ und rassistischer Entwicklungspraktiken. Dabei verweist er ebenso auf die komplexe Rolle, die ›Afrikaner‹ in ihrer Funktion als Mittler zwischen vermeintlich (ur-)afrikanischen Traditionen und der Entwicklungsmoderne zugewiesen erhielten. Silvan Niedermeier untersucht in Anknüpfung an neuere postkoloniale Theoriebildung Diskurse über ›Rasse‹ und Sexualität in den USA des frühen 20. Jahrhunderts. Die Angst vor einer Verunreinigung der ›weißen‹ Rasse war ein transnationales Phänomen, das sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in Europa wie in den Vereinigten Staaten verbreitete. In seinem Artikel »I didn’t rape that lady«: »Rasse«, Vergewaltigung und Zeugenschaft in den US-amerikanischen Südstaaten, 1930–1945 zeigt er, wie diese Angst zu einem zentralen Referenzpunkt der soziokulturellen Ordnung in den amerikanischen Südstaaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde. Untersucht wird der Prozess gegen die Afroamerikaner Henry Daniels und Curtis Robinson, die Anfang der 1940er Jahre in Alabama wegen der Vergewaltigung der weißen Zeola Armstrong zum Tode verurteilt wurden. Der Beitrag zeigt einerseits, wie der Mythos der reinen ›Rasse‹ bis in den Gerichtsalltag hineinwirkte und die Positionen der Justiz nachhaltig beeinflusste. In Anlehnung an den performative turn untersucht der Artikel gleichzeitig, wie sich die zunächst ohnmächtig erscheinenden Angeklagten darum bemühten, die rassistischen Prämissen des Prozesses zu durchkreuzen. In ihrer Gesamtheit greifen die Beiträge des Thementeils somit eine der Forderungen auf, die der Kulturkritiker Stuart Hall bereits vor einiger Zeit formulierte: die Historisierung der Kategorie ›Rasse‹.[10] Joachim C. Häberlen wendet im Werkstatt-Teil die Forschungsdiskussion zum historischen Wandel des Politischen räumlich. Dazu zeichnet er eine Topografie politischer Grenzziehungen innerhalb der Leipziger Arbeiterbewegung am Ende der Weimarer Republik. Die Analyse der Konflikte, die sich aus der Politisierung bis dato privater Räume, wie des Schwimmbads oder der Kantine, ergaben, ermöglicht neue Antworten auf eine alte Frage: Warum kam es nicht zu einer breiten Widerstandbewegung der Arbeiter/innen gegen die nationalsozialistischen Machtergreifung? In der Filmkritik stellt Simona Slanicka den Film L’armée du crime des französischen Regisseurs deutsch-armenischer Abstammung Robert Guédiguian von 2009 vor. Ganz im Gegensatz zu Quentin Tarantinos zeitgleich erschienenem Film Inglorious Basterds, der Nationalsozialismus, Besetzung Frankreichs und Résistance gleichsam als opulenten Bilderpool zu freier spielerischer Verfügung inszeniert, geht es Guédiguian gegen den postmodernen Trend um – wie er sagt – die wahre Geschichte insbesondere der jungen kommunistischen Immigranten im Widerstand gegen deutsche Besatzer und Vichy-Regime. Seine Legendenbildung stieß in Frankreich auf den Vorwurf der Geschichtsklitterung. Simona Slanicka stellt dagegen die Frage, ob Heroismus eigentlich immer dekonstruiert werden muss und was darüber womöglich in Vergessenheit gerät.

Andreas Eckert, Alexandra Przyrembel und die Redaktion


Anmerkungen:

[1] Kwame Anthony Appiah, In My Father’s House. Africa in the Philosophy of Culture, Oxford 1992.

[2] Vgl. Bruce S. Hall, A History of Race in Muslim West Africa 1600–1960, New York 2011; Jonathan Glasman, War of Words, War of Stones. Racial Thought and Violence in Colonial Zanzibar, Bloomington 2011.

[3] Bei den folgenden Untersuchungen der Verflechtungen zwischen den verborgenen und sichtbaren Dimensionen des ›Rassenkonzeptes‹ wird der freilich für die Geschichte des 20. Jahrhunderts so bedeutende Bezug zur Geschichte des Antisemitismus nicht hergestellt. Siehe hierzu die folgenden Studien: Alexandra Przyrembel: ›Rassenschande‹. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus, Göttingen 2003; Michael Wildt, Volksgemeinschaft als Selbstermächtigung. Gewalt gegen Juden in der deutschen Provinz 1919 bis 1939, Hamburg 2007; Veronika Lipphardt: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über ›Rasse‹ und Vererbung, 1900–1935, Göttingen 2008.

[4] Zur Einführung vgl. Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert. Hamburg 2004. Zum wissenschaftlichen Rassenbegriff siehe Thomas Becker, Mann und Weib – schwarz und weiß. Die wissenschaftliche Konstruktion von Geschlecht und Rasse 1650–1900, Frankfurt 2005. Zur boomenden diskursanalytischen Forschungsliteratur zum Thema Frauen und Kolonialpolitik grundlegend Lora Wildenthal, German Women for Empire, 1884–1945, Durham 2001.

[5] Siehe hierzu das Themenheft »die farbe ›weiß‹«, WERKSTATTGESCHICHTE 39 (2005), herausgeben von Alf Lüdtke und Stefan Mörchen.

[6] Alf Lüdtke/Stefan Mörchen, Editorial, in: ebd., S. 3–6, hier S. 4.

[7] Ebd.

[8] Zu den Verflechtungen des ›Rassenbegriffes‹ mit anderen Kategorien wie beispielsweise Geschlecht und Klasse siehe ausführlich Ann Stoler, Race and the Education of Desire. Foucault’s History of Sexuality and the Colonial Order of Things, Durham 1995, S. 196–209.

[9] Siehe beispielsweise Joshua Goode, Impurity of Blood. Defining Race in Spain, 1870–1930, Baton Rouge 2009. [10] Stuart Hall, Das Spektakel des ‚Anderen‘, in: Ders., Ideologie, Identität, Repräsentation (Ausgewählte Schriften 4), 2. Aufl. Hamburg 2008, S. 108–166.

 

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