Editorial: Nr. 48 | über-setzen

Die Beiträge in diesem Heft verbinden zwei aus unterschiedlichen Forschungskontexten stammende Konzepte, nämlich »Reform« und »Übersetzung«. Beide Begriffe bezeichnen intentionale Transformationen, der eine gehört jedoch eher in den Kontext von politik- und sozialgeschichtlichen Fragestellungen, der andere in den von kulturwissenschaftlichen. Gerade deshalb ist es reizvoll, Reformen als Übersetzungen zu analysieren und im Sinne einer reziproken Kritik das aus einer solchen Kombination resultierende Potenzial gegen kulturalistische wie sozialgeschichtliche Engführungen zu nutzen.
Vor allem für politik- und sozialgeschichtliche Arbeiten stellen Reformen und Reformbewegungen einen zentralen Gegenstand dar, gelten sie doch als wesentlich für historische Veränderungen, sei es als Motor, sei es als Reaktion auf strukturellen Wandel. Dennoch ist Reform ein ubiquitärer Begriff, dessen Bestimmungen relativ vage bleiben. Die Geschichtlichen Grundbegriffe heben seine doppelte Bedeutung hervor, zum einen den Rückbezug auf vergangene Zustände, zum anderen eine intendierte Veränderung ohne Rückbezug, in jedem Fall aber verbunden mit Verbesserungserwartungen [1]. Seit der Französischen Revolution fungiert Reform als zeitgenössischer Gegenbegriff zu Revolution, im Laufe des 19. Jahrhunderts wird er mit immer mehr Bereichen in Verbindung gebracht und verliert an Präzision. Im FischerLexikon Geschichte taucht der Begriff im Unterschied zu Revolution gar nicht erst auf. Aufgrund seiner teleologischen Implikationen – mit Reformen verbindet man ein intentional miteinander verknüpftes Vorher und Nachher – gehören Reformen zu den im Zuge einer kulturalistischen Wende in der historischen Forschung inzwischen eher vernachlässigten Themen.
Übertragen aus dem sprachwissenschaftlichen Kontext wird der Begriff Übersetzung zur Beschreibung von Kulturbegegnungen benutzt. Dabei changiert er – auch im wissenschaftlichen Gebrauch – zwischen einer metaphorischen Übertragung des Über-Setzens über den Fluss/die Grenze/den Atlantik auf Reisen, durch Migration etc. und einer metonymischen Beziehung zwischen Sprachübertragung und Kulturübertragung. Die Vielfältigkeit im Gebrauch reflektiert die Komplexität der Übertragungen.
In der Rezeption des Begriffs werden Vorstellungen von einem unvermittelten, zielgerichteten Übertragungsprozess von kulturellen Phänomenen problematisiert. Damit wird die in den Übersetzungswissenschaften diskutierte These aufgegriffen, dass es im Übersetzen keine Originalgetreue zum Ursprungstext geben kann, und entsprechend übertragen, auch keine Authentizität im Übersetzen der einen Kultur in eine andere. Betont wird statt dessen die Wechselseitigkeit des Übersetzens, das wechselseitige Aushandeln von Bedeutungen. Übersetzen kann keine deckungsgleiche Wiedergabe erzeugen, keine semantische Kongruenz zwischen Ausgangstext und übersetztem Text resp. zwischen Ausgangs- und Zielkultur, sondern nur vermitteln, darstellen, übertragen, wobei der Übersetzende die Akzente setzt, also gestaltender, gleichzeitig aber durch den Prozess der Über-Setzung selbst auch gestalteter Part ist. Im Über-Setzen werden Modelle, Regeln gesetzt und festgesetzt. In diesem Zusammenhang gilt es, so Bachmann-Medick, Übersetzungshindernisse zu akzentuieren, wie etwa Missverstehen, Kommunikationsbarrieren, Differenzen, »cultural dyslexia«. [2] Sie fokussiert insbesondere auf die kolonialen Hegemonie- und Machtbeziehungen, die den Prozess der Kulturbegegnungen bestimmen. In der Geschichtswissenschaft ist mit der Transferforschung ein dem kulturellen Übersetzen ähnliches Konzept entwickelt worden, das »raum- und gesellschaftsübergreifenden Austausch und die wechselseitige Durchdringung von Kulturen« untersucht. [3] Christiane Eisenberg betont ähnlich wie Bachmann-Medick die Offenheit des Transferprozesses – die Hindernisse, das Scheitern, die Wiederholung – sowie die reziproken Wirkungsweisen.
Ein für die historische Forschung relevantes Feld, das Übersetzen notwendig macht – sowohl im Sinne von Bewegung als auch im Sinne von Übertragung – ist Reformpolitik. Gemeint ist mit Reformpolitik (der Anspruch auf) Gesellschaftsgestaltung mit dem Ziel der Verbesserung. Reformen und Reformkonzepte bedürfen der Vermittlung, der Annahme, der Übertragung. Sie sind konflikthaft, sie können scheitern, missverstanden, neu gedeutet werden, haben nicht intendierte Folgen [4] etc. Reformen verändern nicht nur die Gesellschaften, für die sie entworfen werden, sie verändern durch das Über-Setzen auch ihren Ausgangspunkt und ihre eigene Bedeutung.
Wenn Prozesse einer intentionalen Transformation offen analysiert werden, kommen sowohl das potentielle Scheitern als auch die Aushandlung von Bedeutungen, die Veränderung von Zielen und Ergebnissen im Übertragungsprozess, das Steckenbleiben, die Wiederholungen, die Konflikte in den Blick. Statt die Beziehungen zwischen Ausgangs- und Zielort in den Vordergrund der Argumentation zu stellen, wird in diesem Heft der Übersetzungsvorgang selbst analysiert und dessen mehrfache Bedeutungen ins Zentrum gerückt.
Ulrike Gleixner untersucht am Beispiel der »Fruchtbringenden Gesellschaft« Sprachreform in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die Fruchtbringende Gesellschaft betrachtete sprachliche Übersetzungen als innovative Möglichkeit zur Verbesserung der deutschen Sprache. Nicht die Abgrenzung von anderen Sprachen, sondern gerade die Integration von fremdsprachigen Texten sollte das Ausdruckspotenzial des Deutschen erhöhen. Übersetzung analysiert sie demnach als einen durchlässigen, offenen Prozess. Ebenfalls als »eine Art Spracherwerb« versteht Mathias Mesenhöller die Übersetzung der Aufklärung ins Kurländische. Er analysiert die Programmschriften der Ständekämpfe um 1790, um zu zeigen, dass Aneignungen und Anwendungen permanent und kontextgebunden sind. Jörn Leonhard fragt, inwiefern sich sprachlich artikuliertes Deutungswissen von einer Gesellschaft, einem Staat, auf andere Kontexte übertragen, und was genau in diesen Übertragungs- und Übersetzungsvorgängen geschieht. Er analysiert das Aufkommen von liberal und Liberalismus im Politikvokabular Europas seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und zeigt, wie Wortimitationen semantisch integriert werden. Bettina Dennerlein beschäftigt sich mit Reformdokumenten im vorkolonialen Marokko zwischen 1900 uns 1908. Sie versteht Reformen als Ausdruck mehrdimensionaler Transferprozesse und zeigt auf, wie politische Ordnungsvorstellungen zirkulieren und auf unterschiedliche Weise angeeignet werden.
Im Mittelteil des Heftes skizzieren Richard Hölzl und Dominik Hünniger in einem Forschungsbericht aktuelle Diskussionen und Konzepte der Umweltgeschichte, die sich globalhistorischen Aspekten öffnet und unter dem Vorzeichen der jüngeren Kultur- und Wissenschaftsgeschichte neue Wege geht. Die Expokritik hat Annette Leo der Ausstellung »Babylon – Mythos und Wahrheit« im Berliner Pergamonmuseum gewidmet. Sie geht vor allem der Frage nach, wie Mythen von Babylon mit der historischen Überlieferung in Beziehung gesetzt werden.

Dietlind Hüchtker und die Redaktion

1 Eike Wolgast, Reform, Reformation, in: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hg.). Geschichtliche Grundbegriffe. Historische Lexikon zur politisch-soziale Sprache in Deutschland, Bd. 5, Stuttgart 1984, S. 313-360.

2 Doris Bachmann-Medick, Einleitung. Übersetzen als Repräsentation fremder Kulturen, in: Dies. (Hg.), Übersetzung als Repräsentation fremder Kulturen, Berlin 1997, S. 1-18, hier: S. 11f.

3 Christiane Eisenberg, Kulturtransfer als historischer Prozeß. Ein Beitrag zur Komparatistik, in: Hartmut Kaelble, Jürgen Schriewer (Hg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt/New York 2003, S. 399-417.

4 Ulrich Beck, Boris Holzer, André Kieserling, Nebenfolgen als Problem soziologischer Theoriebildung, in: Ulrich Beck/Wolfgang Bonß, Die Modernisierung der Moderne, FM 2001, S. 63-81.