Editorial: Nr. 47 | bilder von körpern

Bilder sind in den Geisteswissenschaften en vogue. Etwa zeitgleich mit Politologen, Soziologinnen, Psychologinnen entdecken Historiker Bilder als Forschungsgegenstand. Wieviel davon nur kurzlebige Mode sein wird, wie Skeptiker zu bedenken geben, bleibt abzuwarten. Blickt man allerdings über die Grenzen der eigenen Disziplin, erweist sich das Interesse an Bildern und Bildlichkeit als nicht ganz so neu und recht stabil. [1] Um die Bedeutung des Visuellen für die Kultur zu erfassen, führte der amerikanische Sprach- und Kunstwissenschaftler William Mitchell Anfang der 1990er Jahre eigens den Begriff des Pictorial Turn ein. [2] Folgt man Mitchell und anderen Autor/innen aus dem Wissensfeld der Visual Culture Studies, wird sich die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts ohne Bilder kaum noch schreiben lassen.
Die Visual Culture Studies, so einer ihrer führenden Vertreter, Nicholas Mirzoeff, beschäftigen sich mit solchen visuellen Ereignissen (visual events), mittels derer die Betrachter Information, Bedeutung oder Vergnügen suchen. [3] Visuelle Ereignisse schließen Ölgemälde und Zeichnungen ebenso ein wie Fotografien, Filme, Fernsehen, computergenerierte Bilder und das Internet. Neben einer Definition visueller Kulturen über ihre materielle Basis haben sich die Visual Culture Studies außerdem zunehmend mit der Frage beschäftigt, was geschieht, wenn Menschen etwas betrachten. Damit einher geht eine Akzentverschiebung: An die Stelle von image oder picture rücken Begriffe wie gaze (Blick), the visual und visuality (Sichtbarkeit). [4] Die Aufmerksamkeit richtet sich auf die kulturelle Bedingtheit des Sehens selbst. Sehen ist, wie alle anderen Sinnesakte auch, allein von der Biologie her nicht zu erfassen. Es wird durch Sprache vermittelt. Vorstellungen, Vorannahmen, Wissen färben den Blick. [5] Die Medizin- und Kulturhistorikerin Ludmilla Jordanova hat schon früh gefordert, das Sehen deshalb in den jeweiligen historischen und kulturellen Kontext einzuordnen. Sie verwies auf den von Michael Baxandall in den 1970er Jahren geprägten Begriff des period eye, worunter der Kunsthistoriker die visuellen Fähigkeiten verstand, die Betrachtern in einem bestimmten historischen und kulturellen Kontext zur Verfügung stehen. [6]
Sichtbarkeit wiederum ist eine Strategie, die darüber entscheidet, was gesehen wird, und auch, was nicht gesehen wird, was der Wahrnehmung entgeht und unbemerkt bleibt. [7] Mit diesem Verständnis von visueller Kultur soll die „Prozessualität, Temporalität und Ubiquität der Bilder in einer von visuellen Daten und Informationen strukturierten Gegenwart“ genauer beschrieben werden. [8] Man kann den Akt des Sehens somit als ein kulturelles Konstrukt verstehen; ebenso aber sind Gesellschaft und Kultur selbst Produkte des Sehens, oder, um es mit Mitchell zu formulieren: „Visual culture is the visual construction of the social, not just the social construction of vision.“ [9] Nicht nur, weil wir soziale Wesen sind, sehen wir in der Weise, in der wir sehen, sondern unsere Gesellschaft nimmt die Form an, die sie hat, weil wir sehende Wesen sind.
Was wären die Konsequenzen für eine historische Analyse von Bildern? So verstanden sind Bilder keine passiven Objekte der Betrachtung, sondern beteiligt an der Herstellung kultureller und sozialer Wirklichkeiten. Bilder stellen das, was sie abbilden, mit her. Auf dieser Grundlage bringt das vorliegende Heft der WERKSTATTGESCHICHTE in vier Fallstudien Fragestellungen und methodische Vorschläge der Visual Studies zusammen. Gemeinsam ist den Beiträgen, dass sie das Bild ins Zentrum stellen, um davon ausgehend nach Entstehungs-, Verbreitungs- und/oder Gebrauchszusammenhängen zu fragen. Das mag selbstverständlich klingen, ist aber in historischen Arbeiten, die sich Bildern und Bilderkulturen des 19. und 20. Jahrhunderts zuwenden, keineswegs immer der Fall. Gegenüber den Rekonstruktionen ihrer Entstehung und Distribution – für die sich auf die vertrauteren schriftlichen Quellen zurückgreifen lässt – geraten immer noch allzuoft die Bilder selbst in den Hintergrund. Das mag auch daran liegen, dass ein an Textdokumenten entwickeltes quellenkritisches Instrumentarium für Bilder eben doch nicht hinreicht. Hinzu kommt, dass, wer Bilder in Sprache übersetzt und analysiert, sich selbst als sehendes Subjekt zu erkennen gibt. Anderes ist nicht möglich.
Wenn in diesem Heft von Körperbildern die Rede ist, meinen wir damit zunächst materielle und unmittelbar wahrnehmbare Bilder. Bilder mithin, die an die Physik eines materiellen Trägers gebunden sind, die man gedruckt auf Papier in einem Buch oder einer Zeitschrift vor sich liegen hat, oder Bilder, die an einer Ausstellungswand hängen, Bilder, die man anfassen kann, die auch zerstörbar sind. Die Beispiele, die wir zur Diskussion stellen – Grafiken, Drucke, Zeichnungen und Fotografien – stammen aus dem 19. und 20. Jahrhundert und gehören zur westlichen Kultur.
Wir verstehen Bilder nicht einfach als visuelle Repräsentationen von etwas, das es gibt – hier des Körpers. Bilder setzen zwar den Körper materiell und als Vorstellung voraus. Sie interpretieren jedoch gleichzeitig, was sie zeigen. Sie generieren Wissen über den Körper, stellen ihn auf spezifische Weise mit her, wenn Betrachter/innen sich mit ihren Wahrnehmungen und Handlungen an dem orientieren, was ihnen Bilder zu zeigen geben. Hier kommen neben den materiellen Bildern Vorstellungen, Ängste, Träume, Erinnerungen ins Spiel, Bilder vom Körper, die im Kopf sind, bevor man ein materielles Bild angeschaut hat, und die sich mit dem Betrachten verändern können. Die wirklichkeitsschaffende Leistung von Bildern, ihres Zeigens und Anschauens, lässt sich am Beispiel von Körperbildern besonders gut deutlich machen.
Die vier Beiträge stellen diese materiellen Bilder mit jeweils unterschiedlicher Gewichtung in den Kontext ihrer Produktion und Interpretation. Im Mittelpunkt stehen die Entscheidungen und das Zusammenspiel verschiedener Beteiligter, die zum Bild führten: etwa das Verhältnis von Fotograf, Arzt und Patient/in (Susanne Holschbach), oder auch die Veröffentlichungen von Bildern, die Experten herstellen (lassen) oder auswählen, in populären Medien und damit verbunden Absichten und Erwartungen, die an die Publikation von Fotografien herangetragen werden (Cornelius Borck, Lutz Sauerteig.).
In allen Beiträgen geht es um Betrachterpositionen, um das Zusammengehen von Sehen und Wissen. Der Mediziner Fritz Kahn visualisierte in seinem „Sehakt“ von 1929 das Sehen als ein physiologisches Vermögen. Was wir heute auf Kahns Grafiken sehen, auf Londes Fotos der Hysteriker/innen in Charcots Klinik, auf Zeichungen und Fotos aus der Sexualerziehungsliteratur oder auf Kriegsfotografien, ist nicht identisch mit dem, was die jeweiligen Zeitgenossen erkannten. Der Beitrag von Cornelia Brink wendet daher die Frage nach der Betrachterposition selbstreflexiv auf Historiker/innen. Was sehen sie, wenn sie es mit Bildern körperlich oder psychisch verletzter Menschen zu tun bekommen?
Bilder sind in einer intersubjektiv erfahrbaren Weise immer in einen komplexen sozialen Raum eingebunden. Diesen sozialen und kulturellen Raum möchten wir für eine historische, empirisch fundierte Bildanalyse möglichst weit öffnen.
Sämtliche Beiträge wurden im September 2006 in Konstanz auf dem 46. Deutschen Historikertag in einem eigenen Panel vorgestellt. Wir danken Philipp Sarasin, der uns seinen Kommentar ebenfalls für die Publikation zur Verfügung gestellt hat.
In der Filmkritik geht Kerstin Neuroth der Bildersprache von Jacques Tatis „Jour de fête“ („Schützenfest“) aus dem Jahr 1947 auf den Grund. Der von ihr rekonstruierte selbstironische Umgang mit dem nationalen Neuanfang in Nachkriegsfrankreich wurde von der zeitgenössischen französischen Presse allerdings komplett ignoriert. Und die Fassungen des Films von 1961 und 1995, die den 1947 an noch unausgereiften Filmmaterial gescheiterten Einsatz von Farbe nachholen, kaschieren das frühere Augenzwinkern über einen allzu forcierten Nationalstolz fast gänzlich.

Cornelia Brink, Lutz Sauerteig und die Redaktion

Fußnoten
[1] Vgl. Jens Jäger, Sammelrezension: Kulturwissenschaftliche Bildforschung, in: H-Soz-u-Kult, 31.08.2006, [27.11.2007]. Dass Bilder in der Kunstgeschichte, den Medienwissenschaften, und auch in der empirischen Kulturwissenschaft zu genuinen Forschungsobjekten gehören, sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt.
[2] William J. Thomas Mitchell, Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994.
[3] Nicholas Mirzoeff, What is Visual Culture?, in: ders. (Hg.), The Visual Culture Reader, London/New York 1998, S. 3-13, hier S. 3.
[4] Dazu Gillian Rose, Visual Methodologies. An Introduction to the Interpretation of Visual Materials, London/Thousand Oaks/New Delhi 2001, S. 6.
[5] Vgl. Mieke Bal, Visual Essentialism and the Object of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 2 (2003), S. 5-32, S 11.
[6] Ludmilla Jordanova, Medicine and Visual Culture, in: Social History of Medicine 3 (1990), S. 89-99, hier S. 90.
[7] Bal, Visual Essentialism, S. 11, 14.
[8] Tom Holert, Kulturwissenschaft/Visual Culture, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt am Main 2005, S. 226-235, hier S. 226.
[9] William J. Thomas Mitchell, Showing Seeing. A Critique of Visual Culture, in: Journal of Visual Culture 1 (2002), S. 165-181, hier S. 170.