Editorial: Nr. 46 | tanten

Die theoretischen Gesellschaftsentwürfe des 19. Jahrhunderts haben Verwandtschaft als biologische oder rechtliche Struktur betrachtet, Verwandtschaft und verwandtschaftliche Bindungen zu einem Konzept traditioneller Gesellschaften erklärt und »von der rationalen Zweckgerichtetheit moderner Vergesellschaftung unterschieden«[1]. Wenn die politische Bedeutung von Verwandtschaft in diesen gesellschafts- und sozialpolitischen Entwürfen negiert wurde, so hat die neuere Forschung gerade die strukturbildende Funktion von historischen Verwandtschaftsgefügen für politisches und ökonomisches Handeln sichtbar gemacht.
In diesem Heft zum Thema »Tanten« greifen wir kulturwissenschaftliche Diskussionen auf, in denen Verwandtschaft – nicht nur in frühneuzeitlichen Gesellschaften – als ein soziales Gefüge verstanden wird, das in ökonomischen, politischen und sozialen Zusammenhängen, nicht zuletzt bei der Übertragung von Herrschaft und Besitz, wirkungsmächtig, erfahrbar und beschreibbar wird. Michaela Hohkamp – die Herausgeberin des Thementeils dieses Hefts – stellt in ihrem einleitenden Beitrag dar, welche Potenziale eine Verwandtschaftsforschung hat, die ihre Perspektive wechselt vom Fürst, Vater und erstgeborenen Sohn auf das Gefüge um Tanten, Onkel, Nichten und Neffen. Sylvia Schraut, Stefanie Walther und Margareth Lanzinger erproben diesen Blick anhand konkreter Akteure und Akteurinnen in verschiedenen Verwandtschaftskonstellationen und Epochen. Sylvia Schraut fragt nach der Rolle der Onkel und Tanten, Brüder und Schwestern im Familienverband des Hauses Schönborn, einem stiftsfähigen, katholischen Adelsgeschlecht im 17. und 18. Jahrhundert.
Stefanie Walther untersucht die Beziehung zwischen Elisabeth Ernestine von Sachsen-Meiningen und ihrem Bruder Anton Ulrich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und diskutiert die verwandtschaftlichen Beziehungen und die damit verbundenen Praktiken mit dem Blick auf Elisabeth Ernestine als Tante, Schwester und Schwägerin. Margareth Lanzinger schließlich analysiert Ehen in der Schwägerschaft und nahen Blutsverwandtschaft als »Reparaturehen« im Kontext der Übertragung von Besitz und Vermögen in Tirol und Vorarlberg im 19. Jahrhundert.
Im Mittelteil des Hefts arbeitet Rüdiger Ritter in seiner Fallstudie zu Bremerhaven in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten alltägliche Interaktionen zwischen der Bremerhavener Bevölkerung und den in Bremerhaven stationierten amerikanischen Truppen heraus. Anhand konkreter Orte – Kneipen und Vergnügungslokale – zeichnet Ritter eine bis heute im kulturellen Gedächtnis Bremerhavens verankerte positive und nachhaltige Erfahrung der Präsenz der amerikanischen Streitkräfte nach.
Der Vergleich als historische Methode gilt in der Geschichtswissenschaft seit geraumer Zeit als Erfolg versprechendes Verfahren zur Rekonstruktion historischer Gesellschaften. Ulrich Wyrwa diskutiert in seinem Debattenbeitrag konzeptionelle Fragen des vergleichenden Arbeitens anhand seiner eigenen Untersuchungen zu Emanzipation und Antisemitismus in Deutschland und Italien.
In der Filmkritik beschäftigt sich Johannes von Moltke mit dem Propagandafilm Heimkehr (Gustav Ucicky) aus dem Jahr 1941, der von Joseph Goebbels selbst lanciert wurde. Der Film arbeitet mit Bildern und Motiven, die an die gleichzeitige Verfolgung von Juden und Polen durch die Deutschen selbst erinnern.
Mit einer kleinen Wanderausstellung befasst sich die Expokritik. Diese wandert gegenwärtig durch die neuen Bundesländer und will Fragen zum Antisemitismus in der DDR provozieren. Das Besondere daran ist, dass Schülerinnen und Schüler die Texte geschrieben, die Dokumente und Fotos zusammen getragen haben.

Michaela Hohkamp und die Redaktion

[1] Carola Lipp, Verwandtschaft – ein negiertes Element in der politischen Kultur des 19. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), S. 31–77, hier S. 32.