Editorial: Nr. 44 | sport

Was vereint einen scaphander, das Radreiten, eine Kraftmaschine, eine Tänzerin und den Stockkampf junger Zulu-Männer unter dem Thema Sport? Es sind die jeweils mit diesen Sportarten verbundenen Konzepte von Körper und Bewegung, die uns in diesem Heft interessieren.
Und diese Unterschiede in den Körperkonzepten und deren Modifizierungen lassen sich auch im diachronen Vergleich einzelner Sportarten ausmachen. WERKSTATTGESCHICHTE widmet sich hiermit Themen, die Sport mit Konzepten von Körperlichkeit und Körperkult verbinden und die soziale Praxis des Sports und der bewegten Körper berücksichtigen. Bei einer Beschäftigung mit dem Thema Sport liegt der Gedanke an Fitness und Körperkult nahe. Gibt es Sportarten, bei denen »unsportliche« Körper gleichberechtigt neben »sportlichen« Körpern beteiligt sind? Eine Fokussierung auf den bzw. die sporttreibenden Körper scheint zunächst plausibel. Gleichwohl führt ein historischer Zugang einzelne Sportarten vor Augen, bei denen Aspekte der Fitness und der Leistung zwar heute von großer Bedeutung sind, zur Zeit ihrer »Erfindung« aber zuweilen keine Rolle spielten. Demnach muss die historische Entwicklung der Praxis des Sporttreibens selbst in den Mittelpunkt gestellt werden.
Die folgenden Beiträge positionieren sich bewusst an der Peripherie dessen, was wir heute unter Sport verstehen, und begreifen körperliche Bewegung bereits vor dem Aufkommen des Sportbegriffes als sportliche Praxis. Sie befassen sich mit der Interaktion von Sport und Körper, mit der Frage, welche Konzepte vom menschlichen Körper durch den Sport beeinflusst werden und wie sich verändernde oder neue Sportarten vorhandene Körperkonzepte modifizieren. Die sportliche Praxis ist immer auch eine soziale Praxis – nicht nur im Sinne des gemeinschaftlichen Sporttreibens, sondern auch im Sinne eines Aushandelns von sozialem Stand, Klasse und erstrebtem sozialen Prestige. Alle Beiträge beschäftigen sich mit dieser sportlichen Praxis und der Frage, was die Bewegung des menschlichen Körpers mit eben diesem Körper sowie den Sporttreibenden selbst machte und macht. Auch Fragen der Geschlechtsspezifik des Sporttreibens dürfen bei diesem Zugang nicht fehlen, da über sportliche Betätigung auch gerade die Differenz zwischen weiblichem und männlichem Körper definiert und gestaltet wird.
Wir stellten bei der Konzeptionierung des Heftes fest, wie wenige Historikerinnen und Historiker Sportgeschichte bislang mit Körpergeschichte verbinden. Es liegen zwar unter anderem Arbeiten zur Vereinsgeschichte und zum politischen Systemvergleich (Ost-West) im Rahmen von Sportgeschichte vor; doch der explizite Fokus auf die Historizität von Körperkonzepten im Hinblick auf Bewegung ist selten. Um einen Einblick in eben diese historische Variabilität von Körperkonzepten zu gewinnen, haben wir in diesem Heft versucht, ein möglichst breites Spektrum sportlicher Praxis vorzuführen.
Rebekka von Mallinckrodt beschreibt in ihrem Beitrag die Skepsis, die zur Zeit der »Erfindung« des bürgerlichen Schwimmens im Frankreich des späten 18. Jahrhunderts der Schwimmfähigkeit des menschlichen Körpers entgegengebracht wurde. Diese Skepsis drückte sich unter anderem in der Suche nach geeigneten Schwimmhilfen wie dem scaphander aus, der den Menschen die aufrechte Haltung selbst im Wasser ermöglichen sollte.
Ebenfalls tiefe Zweifel bestanden hundert Jahre später gegenüber dem Radfahren als Sport in Kreisen des deutschen Bürgertums. Anne-Katrin Ebert zeigt in ihrem Aufsatz den Wandel vom Radsport von einer »Belustigung im Freien« hin zur körperlichen Betätigung, die nach sportlicher Leistung strebte. Das Radfahren wurde ähnlich wie das Schwimmen als eine dem menschlichen Körper unnatürliche und fremde Bewegungsform angesehen. So konnte es sich erst im Zuge der Technisierung des Rades als »Kraftmaschine« durchsetzen.
Beiden Sportarten, dem Schwimmen wie dem Radfahren gleichermaßen, wohnte zu Zeiten ihrer Verbreitung zudem ein starkes Moment der sozialen Distinktion inne – im Falle des Schwimmens reguliert über die Zugangsbeschränkungen durch Gebühren der Schwimmstätten, beim Radfahren durch die Aufwendungen für das Sportgerät selbst sowie für die geeignete sportliche Ausstattung.
Natalia Stüdemann zeigt in ihrem Aufsatz, wie die amerikanische Tänzerin Isadora Duncan sich bemühte, im ausgehenden Zarenreich bzw. der frühen Sowjetunion eine Tanzschule aufzubauen. Die Körperideale, die sie mit ihrem Tanzstil verband, waren Teil einer militarisierten Körperkulturbewegung, deren Ziel die Befreiung des Körpers zur Herausbildung eines »Neuen Menschen« war. Und diese Herausbildung des Neuen Menschen sollte durch die »natürliche« und mit paramilitärischem Drill verbundene tänzerische Bewegung gefördert werden.
Ebenfalls eine Synthese von kämpferischer und schließlich sportlicher Praxis gingen die traditionellen Formen der Stockkämpfe in Zulu-Gemeinschaften ein. Das zunächst von Hirtenjungen entwickelte spielerische Kräftemessen durchlief eine zunehmende Ritualisierung und diente der Initiation in die Männerwelt. Schließlich wandelte es sich zu einer antikolonial eingesetzten, »eigensinnigen« Praxis gegen die britische Armee. Im heutigen, postkolonialen Kwazulu-Natal, so schließen Benedict Carton und Robert Morrell ihren Beitrag, hat sich der Stockkampf nunmehr zu einer Touristenattraktion in Freizeitressorts entwickelt und lässt damit sowohl kämpferische wie auch sportliche Aspekte vollends hinter sich.
Im Mittelteil untersucht Julia Mannherz das Phänomen Geistererscheinungen im späten Zarenreich. Vor allem um die Jahrhundertwende erschienen etliche Berichte in Zeitschriften und Zeitungen, die von Geistervisionen erzählten. Die Existenz von Geistern wurde hier zum einen rational zu begründen versucht, zum anderen stellte die behauptete Existenz dieser übernatürlichen Wesen einen von vielen Versuchen dar, mit den Unsicherheiten der modernen, ungewohnt rational erscheinenden Welt umzugehen.
Mit dem neorealistischen Spielfilm Riso Amaro von 1949 und seiner Hauptdarstellerin Silvana Mangano begann der Aufstieg der »Maggiorata« zum Markenzeichen des italienischen Nachkriegskinos. Enrica Capussotti fragt in ihrer Filmkritik, was dieses Ideal verführerischer, üppiger, dabei jedoch mütterlicher Weiblichkeit dermaßen attraktiv machte, dass es bei dem Versuch, im postfaschistischen Italien ein positives nationales Selbstbild zu stiften, eine zentrale Rolle spielen konnte. In Riso Amaro ist diese Figur noch kein beruhigendes Klischee, sondern ein Risikofaktor.

Redaktion und Verlag trauern um Dr. Michael Zimmermann, einen Mitbegründer der WerkstattGeschichte, der am 20. Januar 2007 nach schwerer Krankheit verstarb.

Sabine Horn, Miriam Rürup und die Redaktion