Editorial: Antisemitismus

Plant man ein Themenheft über »Antisemitismus«, so braucht man sich zumindest um eins keine Sorgen zu machen: Dass der aktuelle Aufhänger fehlen könnte, um das Editorial zu eröffnen. Und während sich in der betreffenden Mappe die wissenschaftlichen und feuilletonistischen Auseinandersetzungen um Möllemann, Hohmann & Co. stapeln, läuft man eher Gefahr, vor lauter tagespolitischen Bezügen die historische Dimension aus den Augen zu verlieren. Denn in den erregten Debatten der letzten Jahre ließ sich ein interessantes Phänomen beobachten. Einerseits schien in der breiten Öffentlichkeit eine gewisse Begriffsverwirrung um sich zu greifen: Man schien nicht mehr zu wissen, »was denn nun eigentlich antisemitisch«, was »Antisemitismus« sei. Andererseits gilt dies in der wissenschaftlichen Forschung als relativ geklärt, gestritten wird lediglich um Datierungen seiner Entwicklung und neuerdings um seine Relevanz bzw. Funktion im Nationalsozialismus. Diese Deutungen bewegen sich jedoch fast immer auf der Ebene der Geistes- bzw. Politikgeschichte, nur selten – meist am Rande in Studien zur jüdischen Geschichte – kommt die soziale Praxis vor Ort in den Blick. Gleichzeitig scheint man in Europa erst in jüngster Zeit und mit großem Erstaunen festzustellen, dass man durch die jahrzehntelange Immigration in den westlichen Teil des Kontinents und durch die EU-Erweiterung gen Osten plötzlich »zu Hause« mit Spielarten des Antisemitismus konfrontiert ist, die man bislang als jenseits imaginärer oder sehr realen Grenzen glaubte ignorieren zu können.
In diesem Heft werden verschiedene europäische Manifestationen des Antisemitismus in ihrer historischen Verschränkung und in ihren aktuellen Bezügen thematisiert. In den Blick kommen so die drei großen religiösen Milieus in Europa am Beispiel des protestantischen Bildungsbürgertums, der katholischen Stadtkultur Kölns bzw. der Nationalkultur Polens und der modernen muslimischen Einwanderungsgesellschaft in Frankreich. Letzteres erscheint nicht zuletzt deshalb wichtig, da es an der Zeit ist, die islamische Kultur auch als Teil der westeuropäischen Gesellschaften zu begreifen. In allen Beiträgen liegt der analytische Schwerpunkt auf der dem Antisemitismus inhärenten und bisher zu wenig beachteten Dynamik, auf der Möglichkeit, antisemitische Denkmuster, wie Nikola Tietze dies nennt, in unterschiedlichen Zeiten für ganz unterschiedliche Zwecke zu instrumentalisieren bzw. zu aktualisieren. Wir alle kennen dies aus den aktuellen deutschen Diskussionen, wo antisemitische Lamentos sich heute auf ganz andere Topoi als früher beziehen und man beispielsweise über die angebliche Übersättigung nicht nur der deutschen Gesellschaft durch die Holocaust-Pädagogik klagt oder über die israelische Politik bzw. deren »zu großen« Einfluss.
Vor über 120 Jahren, so berichtet Uffa Jensen, plagten die deutschen protestantischen Bildungsbürger ganz andere Sorgen: nämlich die aus ihrer Sicht zu große Nähe zwischen Juden und Nichtjuden, der gemeinsame lebensweltliche Zusammenhang innerhalb der bürgerlichen Bildungskultur. In seiner kommunikationstheoretisch inspirierten Neubetrachtung des »Urskandals« des Antisemitismus in Deutschland, des später so genannten »Berliner Antisemitismusstreits«, analysiert Jensen zunächst die zwei deutlich getrennten Phasen dieses Streits, um schließlich zu einem Ergebnis zu kommen, dessen aktuelle Bezüge offensichtlich sind: Die dort festgeschriebene kommunikative Ordnung unter den Gebildeten wies Juden von nun an in der Öffentlichkeit eine klare Rolle zu – meldeten sie sich zu Wort, so wurden sie immer und zuallererst als Juden wahrgenommen, und nicht etwa als Bildungsbürger, Deutsche oder Berliner.
Oder als Kölner, ließe sich mit Blick auf den Beitrag von Nicola Wenge hinzufügen, der den Antisemitismus als soziale Praxis in der Domstadt während der Weimarer Republik untersucht. Mittels einer tatsächlich äußerst dichten Beschreibung antisemitischer Akteure und Aktionen in zwei ausgewählten Szenarien des städtischen Alltags – der Universität und dem Wirtschaftsleben – gelingt ihr der Nachweis, dass die Vorstellung einer homogen liberalen Stadtkultur oder eines homogenen katholischen Milieuantisemitismus in die Irre läuft: schaut man genauer hin, so wird nämlich deutlich, dass die Durchsetzung oder Zurückweisung antisemitischer Postulate im lokalen Alltag zwischen den einzelnen Akteuren immer wieder neu ausgehandelt wurde.
Die Bedeutung des lokalen Bezugs verbindet ihre Studie mit der von Nikola Tietze, die aktuelle Einzel- und Gruppeninterviews mit französischen Muslimen aus zwei französischen Vorstädten einer soziologischen Analyse unterzieht. Ihre nach Generationen, lokalen Erfahrungen und spezifischen Diskursen differenzierende Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass hier, angesichts von Diskriminierungserfahrungen, eigenen Defiziten und virulenten Identitätskonflikten innerhalb der Einwanderergesellschaft, die antisemitischen Denkmuster einen sinnstiftenden Rahmen bilden, der sich vor allem aus einem Gefühl der Konkurrenz speist und dessen ideologische Brüchigkeit durch den Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt immer wieder neu übertüncht werden kann.
Im Werkstattbericht schließlich informiert Agnieszka Pufelska über den ersten polnischen Europawahlkampf, den die später zweitplatzierte Partei mit radikal-antisemitischen Parolen bestritt. Um zu erklären, warum deren Behauptung, die EU sei ein Synonym für die jüdische Weltherrschaft, nicht wenigen Polen schlüssig erscheinen konnte, seziert sie fein säuberlich die Entstehung und Entwicklung des Feindbilds der »Judäo-Kommune«: Dort haben sich über Jahrzehnte religiöse, nationale, opferkonkurrente, antikommunistische und machtpolitische Motive und Interessen auf spezifische Weise verschränkt, so dass es auch heute, immer wieder verjüngt und neuen Realitäten angepasst, zur Interpretation der an sozialen und politischen Verwerfungen gewiss nicht armen polnischen Realität zur Verfügung steht.
In einem kulturalistisch erweiterten Diktaturenvergleich untersuchen Olaf Stieglitz und Christoph Thonfeld denunziatorische Praktiken am Beispiel Thüringen im Nationalsozialismus, unter sowjetischer Besatzung und in der frühen DDR. Dabei nehmen die Autoren sowohl übergeordnete Strukturen und deren vielschichtige Vermittlung in kollektiven Aushandlungsprozessen als auch individuelle Aneignungen in den Blick ihrer Untersuchung. Hinter zunächst oberflächlich erscheinenden Gemeinsamkeiten konnten sie in den jeweiligen denunziatorischen Praktiken auch bedeutsame Unterschiede feststellen.
Einen Überblick über die jüngere Naturkatastrophenforschung gibt schließlich Uwe Lübken in seinem Literaturbericht. Anhand mehrerer Neuerscheinungen stellt er aktuelle Fragen und Tendenzen im historischen Umgang mit Naturkatastrophen vor. Die Ansätze beschränken sich mittlerweile nicht mehr auf historische Unterschiede in der Erfahrung und Bewältigung von Naturkatastrophen. Neuerdings werden verstärkt Fragen nach dem Schutz vor Katastrophen bzw. der historischen Entstehung von Versicherungssystemen gestellt. Nicht zuletzt sei es notwendig, auch technologische Katastrophen in die Analysen einzubeziehen.
Von einem ungewöhnlichen Experiment berichtet Annette Leo in der Expo-Kritik. Mit der Open-Air-Ausstellung »Zeitenrisse« hat die Berlin-Brandenburgische Geschichtswerkstatt versucht, die wechselvolle Geschichte des Geländes des Bezirksamtes Prenzlauer Berg in den Alltag zurückzubringen. Die Entwicklung vom Siechenhaus über Stasi-Knast bis zum Bezirksamt soll am Ort des Geschehens fassbar gemacht werden. Dabei werden die Besucherinnen und Besucher mit ihren Erlebnissen und Erinnerungen einbezogen.

Stefanie Schüler-Springorum und die Redaktion