Editorial: Nr. 35 | gewalt - politik

cover-035Historische, literarische und andere sprachliche Darstellungen von physischer Gewalt sehen sich mit einem zentralen Problem konfrontiert: Sie müssen Worte für einen Gegenstand finden, der sich im Kern einer adäquaten sprachlichen Repräsentation entzieht. Der direkten körperlichen Erfahrung von Gewalt steht die Distanz schaffende sprachliche Gestaltung entgegen. Alf Lüdtke hat die ambivalenten Funktionsweisen dieses »Banns der Wörter« in Zusammenhang mit dem Reden über den NS-Völkermord aufgezeigt.[1]

Vor allem dem Schreiben über das Erleiden von Gewalt stehen vielfältige Hemmnisse entgegen. Neben die Schwierigkeit, Worte zu finden, treten moralische Vorbehalte wie die, dass die Opfer durch die (öffentlich zugänglichen) Beschreibungen erneut verletzt werden könnten, oder dass Gewalt durch den sprachlichen Bann in ihrer unmittelbaren traumatischen Wirkung verharmlost wird. Andere Autorinnen und Autoren glauben im Interesse der Leser auf allzu drastische Schilderungen und die damit verbundenen Zumutungen verzichten zu müssen und befinden sich damit im Gegensatz zu vielen Gewaltopfern, die mit dem Reden oder Schreiben über ihre Erfahrungen Erleichterung und auch öffentlichen Anerkennung verbinden. Viele Abhandlungen geraten zudem – in der Absicht deutlich machen zu wollen, dass Gewalt natürlich verdammenswert ist – in die Falle eines naiv anmutenden, pazifistisch-universellen Konsenses, demzufolge alle vernünftigen Menschen Gewalt ablehnen, wohl wissend dass sie sich tagtäglich aufs Neue ereignet. Susan Sonntag hat diese Dilemmata in ihrem neuen Buch[2] – ausgehend von der Analyse von Virginia Woolfs pazifistischem, auf den ersten Weltkrieg bezogenen Essay »Drei Guineen«[3] – in Hinblick auf Kriegsfotografien und Kriegsberichterstattung eindrücklich vorgeführt.

Ein Ansatzpunkt mit den Schwierigkeiten umzugehen, liegt in der konsequenten Historisierung von Gewalt. Auch dem scheint sie sich auf den ersten Blick jedoch zu entziehen. Unveränderlich erscheinen ihre wesentlichen Merkmale: Gewalt wird körperlich erfahren – Gewalt wird von Körpern an Körpern gegen den Willen der Leidenden ausgeübt. Sie bereitet Schmerz und Angst. Angst vor andauernden oder wiederkehrenden Schmerzen, in letzter Konsequenz vor dem gewaltsamen Tod. Sie bringt und bedeutet aber auch Übermacht und die Lust daran. Dennoch lassen sich Gewalttat und Gewalterfahrung nicht von historischen Situationen und Prozessen ablösen. Gewalt ist gleichermaßen historische Erfahrungsweise und historische Handlungsform. Gewalthandeln wird funktionalisiert. Gewalt kann eingesetzt werden, um machtpolitische Ziele zu erreichen und wird so Teil politischer Strategien. Sie dient der Errichtung von Herrschaft und wird auf lange Sicht als Mittel zu deren Aufrechterhaltung eingesetzt, vor allem in Gestalt staatlicher Gewaltmonopole[4].
Aufbauend auf erste Impulse in Heft 4[5] und dem daraus entstandenen, breiter angelegten, von Alf Lüdtke und Thomas Lindenberger herausgegebenen Aufsatzband »Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit«[6] versteht sich der vorliegende Themenschwerpunkt als Vorschlag, die mit den charakteristischen Methoden der Alltagsgeschichte möglichen empirischen Annäherungen an eine Geschichte der physischen Gewalt auch für die Geschichte politischer Konflikte zu nutzen. Anhand von spezifischen Problemstellungen der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts zeigen die Beiträge, wie eine genaue Lektüre von Gewalthandeln die damit verbundenen praktischen Zielsetzungen freilegen und den einkalkulierten Wirkungsmechanismen erlittener Gewalt auf die Spur kommen kann.
Die »Politik-Arenen«[7], die Ort und Schauplatz der jeweiligen Gewaltereignisse abgeben und die Situationen, die den Kontext für die jeweiligen Handlungsspielräume ausmachen, scheinen auf den ersten Blick disparat: Mit Berlin, Paris und Hamburg stehen drei Metropolen um 1910, 1960 und Mitte der 1990er Jahre der deutschen Provinz in den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts gegenüber. Bei näherem Hinsehen wird jedoch deutlich: Gewalt-Politik wird ausgeübt im persönlichen Nahbereich – auch in den Großstädten sind das Quartier, Wohnhaus, Kneipe und Straße, sind vertraute Formen der Geselligkeit – der Besuch im Sportstadion, die Nachbarschaft – die Bühnen für politisch intendierte und politisch wirksame Gewalt. Politische Gewalttäter sind Nachbarn, Wirte, Vermieter, Kollegen, Passanten, ebenso wie ihre Opfer. Und auch die involvierten staatlichen Akteure, ob der Polizist im Quartier oder der sich in der Öffentlichkeit zeigende Staatsmann, sind Teil der sozialen Unmittelbarkeit, die durch den Gewaltakt hergestellt wird – sei es, dass sie ihn selbst verüben oder anordnen, sei es, dass sie ihrerseits zu Zielscheiben kalkulierter Gewalt werden. In den einzelnen Situationen stellt sich Gewalt zugleich als ein Medium gesellschaftlicher Kommunikation dar, das dazu dient, Neudefinitionen davon durchzusetzen, wer dazu gehört und wer fremd ist, und wer welche Rechte in Anspruch nehmen darf oder nicht.

Michael Wildt und Klaus Hesse bearbeiten diese Thematik anhand der Zeit des Nationalsozialismus: Es geht um die größtenteils öffentliche Gewalt gegen Juden in der frühen Zeit des Regimes, die dazu diente, Juden zu »Fremden« zu machen und sie damit quasi vogelfrei zu erklären und der Verfolgung auszuliefern. Wildt setzt diese gewaltpolitische Strategie in Verbindung mit der Etablierung der »Volksgemeinschaft« und der Einübung der Akzeptanz exzessiver Gewalttätigkeit, die schließlich im Holocaust endete. Diese Blickrichtung unterstellt keinesfalls eine intentionale Planung, sondern wird als Teil einer in sich auch widersprüchlichen Radikalisierung interpretiert, die nicht nur in Bürokratien und unter den politischen Funktionsträgern, sondern auch von unten her, in den sozialen Nahbereichen heranwuchs. Wildt stützt sich vor allem auf Berichte des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, die – aus der Perspektive einer jüdischen Interessensvertretung – zahlreiche Einzelfälle festgehalten haben. Hesse behandelt dasselbe Thema anhand von Fotos, die das Geschehen festhielten und in städtischen und anderen Archiven in ganz Deutschland überliefert sind. Im Zusammenhang mit der Thematik »Rasseschänder« kommt hier auch sexualisierte Gewalt in den Blick. Marcel Streng behandelt eine weitere Art des politischen Konflikts mit zentraler Bedeutung für das 20. Jahrhundert: die Entkolonialisierung. Er beschreibt die Legitimierung bzw. Bagatellisierung gewalttätiger Auseinandersetzungen unter Algeriern in Frankreich in den 1950er und 1960er Jahren und legt dar, dass dieser diskursive Kunstgriff wesentlich war für die Funktionalisierung von Gewalt in der politischen Auseinandersetzung. Auch die Algerier wurden zu »Fremden« gemacht. Gewalt unter Algeriern erschien für die französische Gesellschaft zunächst unerheblich. Gegen Algerier ausgeübte exzessive Gewalttätigkeit galt als legitim, da plausibel gemacht werden konnte, dass von ihnen eine gewalttätige Gefahr für Franzosen und die Ordnung des französischen Staates ausgehe. Diese vor allem presseöffentliche Stilisierung schien notwendig, wollte man die bestehende Ordnung aufrechterhalten.

Behandeln diese drei Beiträge Gewalt in Zeiten akuter Krisen und machtpolitischen Wandels, so steht im Zentrum von Thomas Lindenbergers Beitrag die ganz normale, nur im Extremfall skandalmachende Gewalttätigkeit der Polizei gegenüber unbotmäßigen bzw. politisch andersdenkenden, meist männlichen Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Kaiserreich und in den 1990er Jahren. Auch diese Personengruppen werden zu »Anderen« stilisiert, so dass die Ausübung polizeilicher Gewalt ihnen gegenüber legitim erscheint. Allerdings sind die Kriterien für diese Legitimierung auch für die Polizeigewaltigen keineswegs uneingeschränkt verfügbar: Die Öffentlichkeit der Medien wie der Straße haben ein großes Gewicht, da jede Polizei auf ein Minimum an Akzeptanz angewiesen ist. In Zeiten, in denen das staatliche Gewaltmonopol nicht unmittelbar bedroht scheint, sind einer polizeilich exekutierten Gewaltpolitik daher Grenzen gesetzt und sie kann ihren Anspruch, als einziger Akteur legitime Gewalt auszuüben, nicht ohne massive Polizeikritik einschließende Aushandlungsprozesse durchsetzen.

Auch der erste Beitrag in der Rubrik Werkstatt beschäftigt sich mit Gewalt. Claudia Jarzebowski analysiert Gerichtsverfahren, die für die Kurmark und Preußisch-Schlesien für die Jahre 1720-1800 sexuelle Gewalt gegen Kinder dokumentieren. Sie untersucht Praktiken und argumentative Strukturen, die in der Deutung von Akteuren und Akteurinnen die Grenzen zwischen legitimer und nichtlegitimer Gewalt bestimmen und die sich an den Kategorien Alter, Geschlecht und soziale Zugehörigkeit orientieren.

Die Soziologie des Lachens ist Gegenstand von Eckart Schörles Beitrag. Theodor W. Adorno widmete ihr im Wintersemester 1964/65 ein eigenes Seminar. Anhand unveröffentlichter Notizen aus der Vorbereitung zur ersten Sitzung untersucht Schörle den engen Zusammenhang von Lachen und Konflikt im Denken Adornos und zeigt einen Seminarleiter, der die Studierenden ermunterte, die eigene Erfahrung und Beobachtung als Grundlage aller Soziologie zu begreifen.
Cinéasten waren entsetzt, als Regisseur Harald Braun 1955 das kunstvolle avantgardistische Stummfilm- Drama »Der letzte Mann« in einen süffigen Unterhaltungsfilm verwandelte. Ulrike Weckel untersucht in ihrer Filmkritik die markanten Veränderungen im »plot« und fragt, was sie über die westdeutschen fünfziger Jahre aussagen. War väterliche Autorität fragwürdig geworden und musste neu begründet werden?

Daniel Morat berichtet von einer Tagung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die dem aktuell erneut intensiv diskutierten Thema »Generation« gewidmet war. Teilnehmer aus unterschiedlichen Fachdisziplinen diskutierten Reichweite, Vorteile und Grenzen des Begriffes. Der Autor spricht sich für einen problembewussten Umgang mit der Begrifflichkeit aus und macht sich für den Versuch, dessen internationale Tragfähigkeit zu untersuchen, stark.

Der Themenschwerpunkt Gewalt-Politik dieses Heftes ist Alf Lüdtke gewidmet, der im Oktober seinen 60. Geburtstag gefeiert hat. Die Idee dazu geht auf einen Sommerkurs im Jahre 2001 am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen zurück. Alf Lüdtke hatte -als Teil seiner langjährigen Arbeit zum Thema – Studierende und Vortragende aus ganz Europa zusammengebracht. Gewalt als Gegenstand historischer Forschung war zehn Tage lang Mittelpunkt der Diskussionen. Einen kleinen Ausschnitt daraus präsentieren die hier vorgestellten Aufsätze, die um einen Bildbeitrag ergänzt wurden. Sie beziehen sich in verschiedenster Weise auf seine Arbeiten, mit denen er seit drei Jahrzehnten wie kaum ein anderer in Deutschland eine kritische Geschichtsschreibung gefördert und inspiriert hat, die als »Alltagsgeschichte« auf anhaltendes Interesse und zunehmende Anerkennung stößt und deren Potential noch längst nicht ausgeschöpft ist. WERKSTATTGESCHICHTE verdankt ihm als Mitbegründer und Mitherausgeber viel Anregungen und Kritik – wir freuen uns auf die weitere Zusammenarbeit.

Eva Brücker und die Redaktion

[1] Alf Lüdtke, Der Bann der Wörter: »Todesfabriken«. Vom Reden über den NS-Völkermord – das auch ein Verschweigen ist, in: WERKSTATTGESCHICHTE 5 (1996) 13, S. 5-18.
[2] Susan Sonntag, Das Leiden anderer betrachten, München/Wien 2003.
[3] Virginia Woolf, Three Guineas, London 1938
[4] Trutz von Trotha (Hg.), Soziologie der Gewalt. Sonderheft 37 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen/Wiesbaden 1997.
[5] WERKSTATTGESCHICHTE 2 (1993) 4: Physische Gewalt im Alltag.
[6] Thomas Lindenberger/Alf Lüdtke (Hg.), Physische Gewalt. Studien zur Geschichte der Neuzeit, Frankfurt am Main 1995.
[7] Zur Definition des Begriffs und dem zugrunde liegenden Verständnis von Politik als Handlungsfeld vieler Einzelner auch außerhalb formalisierter Abläufe, vgl. Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitserfahrungen und Politik, Hamburg 1993, S. 172ff.