Editorial: Nr. 60 | korrespondenzen

cover-060 Im Zentrum des Themenhefts »Korrespondenzen« stehen die Vielfalt und der historische Wandel von Briefwechseln, in denen Einzelpersonen schriftlich miteinander kommunizieren und damit Verbindungen und Beziehungen über weite Entfernungen anbahnen, aufrechterhalten und gestalten. Briefe stellen für die Geschichtswissenschaft eine wichtige und insgesamt wenig aufgearbeitete Quelle dar. Häufig sind es die einzigen Zeugnisse, um direkte persönliche Beziehungen in der Vergangenheit und die Art und Weise, wie sie sprachlich zum Ausdruck gebracht wurden, zu rekonstruieren bzw. zu verstehen. Dieser Einschätzung liegt nicht die Annahme zugrunde, dass sich solche Beziehungen direkt und unvermittelt in Briefen widerspiegeln, vielmehr gilt es, die jeweiligen Regeln zu analysieren, nach denen die Korrespondenten ihre Anliegen sprachlich in Form eines Briefes oder einer anderen schriftlichen Mitteilung formulieren. Solche Regeln entwickelten sich teilweise zu Konventionen für unterschiedliche Briefarten, etwa für Titulaturen, und teilweise wurden sie in sog. Briefstellern explizit festgelegt, um das Briefschreiben zu „erlernen“. Briefe sind als historische Quellen unerlässlich für sozialgeschichtliche ebenso wie für mentalitätsgeschichtliche und diskursgeschichtliche Forschungen, weil sie nicht nur durch ihren Inhalt, sondern auch durch ihre Form und ihre Sprache erhebliches Erkenntnispotenzial bereit stellen. Wie sehr sich das Genre »Brief« dabei historisch gewandelt hat und heute noch wandelt, sollen die Beiträge dieses Heftes, welche den Zeitraum vom 16. bis zum 21. Jahrhundert abdecken, aufzeigen. In ihrer analytischen Stoßrichtung relativieren die Beiträge die statischen Kategorisierungen von Briefen als entweder privat, öffentlich, freundschaftlich, geschäftlich, familienbezogen oder historisch überliefernd und zeigen, wie unterschiedliche Zuschreibungen sich vermischen und gegenseitig durchdringen. Lange Zeit galt das 18. Jahrhundert als das „Jahrhundert des Briefes“. Dieser Annahme entledigt man sich schnell, wenn man einen Blick auf die Überlieferung des 17. Jahrhunderts richtet. Frauen und Männer, ob als Gelehrte, religiös Engagierte, fürstliche Personen, in Geschäfts-, Verwandtschafts- oder Netzwerkverhältnissen korrespondierten in großer Zahl und hinterließen eine Fülle von Briefen. Gabriele Ball stellt ein Briefnetzwerk von protestantischen Fürstinnen aus dem 17. Jahrhundert in das Zentrum ihres Beitrages. Die Korrespondenzen der „Tugendlichen Gesellschaft“, einer weiblichen hochadeligen Sozietät, deren Mitglieder häufig in Verwandtschaftsbeziehungen standen, lassen sich dabei nicht mit der Dichotomie eines Privatbriefes von Frauen auf der einen und öffentlich-gelehrter Briefe von Männern auf der anderen Seite erfassen. Stattdessen gelingt es der Autorin eine kommunikative und netzwerkbezogene frühneuzeitlichen Briefkultur von hochadeligen Frauen aufzublättern, die eine weiblich-öffentliche Korrespondenzkultur zum Vorschein bringt. Als performativer Akt dient der Fürstinnenbrief im adeligen Netzwerk der Aufrechterhaltung und Aktualisierung von sozietäten, öffentlich-herrschaftlichen wie verwandtschaftlichen Beziehungen. Der Beitrag stützt sich auf die in der Frauenforschung erarbeitete These, nach der in der Vormoderne öffentlich und privat weder klar voneinander geschieden noch als Konzepte im modernen Sinne überhaupt bestehen. Im 18. Jahrhundert entwickelt sich der Brief als eine zentrale Form der Kommunikation über weite Entfernungen insbesondere für das Bürgertum. Im Schreiben von Briefen werden intellektuelle, geschäftliche und persönliche Beziehungen geknüpft, erhalten und gestaltet. Die Korrespondenzen sind das Bindeglied von Freundeskreisen und geschäftlichen Netzwerken. Carmen Goetz untersucht in ihrem Aufsatz über die Korrespondenz zwischen dem Schriftsteller Jacobi und seinem Verleger Albert Göschen eine solche briefliche Verbindung von ihrer ersten Anbahnung bis zur vollen Entfaltung einer freundschaftlichen, zeitweise herzlichen Geschäftsbeziehung. Dabei gelingt es ihr zu zeigen, dass die in der Literatur über Briefe übliche Trennung zwischen Freundschafts- und Geschäftsbriefen in diesem Fall nicht trennscharf zu machen ist, dass vielmehr beide eine spezifische und sich wandelnde Mischung eingehen. Der von Goetz akribisch aufgearbeitete Briefwechsel vermag darüber hinaus gängige Annahmen der Forschung über Verlegerverhältnisse im 18. Jahrhundert in Frage zu stellen und er erweist sich damit als eine hervorragende Quelle für freundschaftlich-geschäftliche Verbindungen und ihre Konflikte. Dorothee Wierlings Studie über eine private Korrespondenz im Ersten Weltkrieg beruht auf einer dem bildungsbürgerlichen Milieu angehörenden Familie aus Berlin. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert waren Briefe jedoch keine auf die adligen und bürgerlichen Eliten beschränkte Kommunikationsform mehr, sondern, erleichtert durch einen zunehmenden Alphabetisierungsgrad und gleichzeitig hoher Binnenmobilität im Zuge der Industrialisierung, ein fast allen sozialen Schichten zugängliches und von ihnen benutztes Medium. Gefördert wurde diese Entwicklung zusätzlich durch den Ausbau einer Infrastruktur, die es ermöglichte, Briefe innerhalb kurzer Zeit und, in den großen Städten, mehrmals täglich zuzustellen. Der Erste Weltkrieg bildete den vorläufigen Höhepunkt massenhafter Briefkommunikation, nicht nur weil so viele Soldaten wie nie zuvor in diesem Krieg eingesetzt waren, sondern auch, weil ein großer Teil dieser Soldaten und ihrer Familien – insbesondere aus dem Bürgertum – davon überzeugt war, an einem großen historischen Ereignis teilzuhaben, einem Ereignis, das es als Erfahrung zu protokollieren und zu überliefern galt. Im Fall der Familie Braun, auf den sich Wierlings Analyse stützt, ist es infolge der kompletten Überlieferung der Briefe aller Korrespondent/innen möglich, die gemeinsame Verständigung über die Bedeutung des Krieges und seinen Sinn für jede(n) Einzelne(n) zu rekonstruieren, sowie die damit verbundenen, neuen Positionierungen innerhalb der Familie zu untersuchen. Jörg Meier schließlich widmet sich in seinem kulturhistorischem Beitrag den neuen Formen schriftlicher Korrespondenz, wie email und short message service (SMS). Während der Brief als Medium offensichtlich an Bedeutung verloren hat – bzw. der einzelne Brief dadurch stark aufgewertet wird – haben die neuen Medien der schriftlichen Kommunikation als solcher einen neuen, starken Stellenwert verliehen. Meier analysiert die technischen und sozialen Bedingungen, unter denen email und sms sich seit den 1990er Jahren zum Hauptmedium schriftlicher Kommunikation entwickelten; als Kommunikationswissenschaftler bezieht er sich weniger auf den scheinbar radikalen Wandel in der Form schriftlicher Mitteilungen, als vielmehr auf die Tatsache, dass entgegen aller pessimistischen Wahrnehmungen der Neuen Medien durch ihre Kritiker, die elektronischen Korrespondenzen einen Großteil der Funktionen des Briefeschreibens übernommen habe –wenn auch eingebettet in ein völlig neues Zeitregime. Für Historiker stellt sich freilich noch eine andere Frage, nämlich die nach der Massenhaftigkeit ebenso wie der Flüchtigkeit dieser elektronischen Texte. Werden sie überhaupt als historische Quellen zur Verfügung stehen? Können sie also noch als Quellen für soziale Beziehungen und Aushandlungen von Deutungen der Wirklichkeit genutzt werden? Im Mittelteil widmet sich Juri Auderset den neuen Entwicklungen der intellectual history in den USA. Im Kontext des linguistic turn disktutiert Auderset die theoretischen Überlegungen von Keith Michael Baker und Lloyd S. Kramer und macht Vorschläge, inwiefern diese zu einer Erneuerung der intellectual history in Deutschland beitragen können. In der Filmkritik nimmt sich Maxi Braun den sowjetischen Stummfilm-Klassiker Oktober (1928) des für seine Attraktionsmontagen berühmt gewordenen Sergej Eisenstein vor. An die Stelle des recht unspektakulären Staatsstreichs einiger Bolschewiki gegen die provisorische Regierung im Oktober 1917 setzt der Film eindrucksvolle Massenszenen, die den Begriff ›Oktoberrevolution‹ zu verdienen scheinen und Revolutionsvorstellungen von Generationen geprägt haben dürften. Maxi Braun kann zeigen, dass gerade die Abweichungen von der Realität den Film zu einer aufschlussreichen historischen Quelle machen.

Ulrike Gleixner, Dorothee Wierling und die Redaktion

 

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