Editorial: Nr. 61 | geschichte und kritik

1946 beschrieb Jawaharlal Nehru, Indiens erster Ministerpräsident nach der Unabhängigkeit, sein Land als ein Palimpset aus verschiedenen Schichten von Gedanken und Träumereien, wobei keine Schicht die älteren völlig verdeckt oder ausgelöcht habe. Das Foto zeigt ein Palimpset aus Plakaten im indischen Pondicherry im Jahr 2008. © Adam Jones, Ph.D./Wikimedia Commons

„Was ist kritische Geschichts-schreibung heute?“ Diese Frage stellen wir uns als Zeitschriften-projekt, das aus der Geschichtswerkstättenbe-wegung hervorgegangen ist und dessen kritische Impulse mittlerweile Eingang in den etablierten akademischen Betrieb gefunden haben, immer wieder selbst. Gilt es, weiterhin herrschafts-kritische Perspektiven und die Fokussierung auf die handeln-den Subjekte einzufordern, oder sind heute andere Fragen und Perspektiven gefordert? Inwiefern müssen eigene Ansätze und Gewissheiten überprüft und neu reflektiert werden?
Als wir den Essaypreis WERKSTATTGESCHICHTE auf den Weg gebracht haben, war die Frage für den ersten Wettbewerb rasch gefunden. In der alltäglichen Routine fehlt oft der Abstand, um eingefahrene Strukturen und Sichtweisen zu hinterfragen. Mit der Preisfrage wollten wir zu einer Reflexion des eigenen Tuns jenseits des alltäglichen Wissenschaftsbetriebs anregen. Außerdem sollte mit dem Essaywettbewerb eine Textform gefördert werden, die ein freieres Spiel der Gedanken zulässt. Im Ausschreibungstext hieß es dazu:
„Gutes Schreiben hat es schwer in Zeiten, in denen der Zwang zum raschen Publizieren Voraussetzung für die Karriere ist. Oft ist die Form, also ein dem Gegenstand und der Fragestellung adäquater sprachlicher Ausdruck, kein maßgebliches Kriterium. Dem wollen wir etwas entgegensetzen! Die Zeitschrift WERKSTATTGESCHICHTE hat sich stets als ein Forum verstanden, das für Experimente offen ist. Sie will ein Ort sein, an dem über Geschichte ebenso reflektiert wird wie über historisches Forschen und Schreiben. Gerade die unbegrenzte Verfügbarkeit von Informationen im Internet macht das Schreiben als deren gedankliche wie sprachliche Verknüpfung auf dem Weg zum historischen Wissen wichtiger denn je. Der Essay als eine Form intellektueller und stilistischer Zuspitzung, als Möglichkeit von Gedankenexperimenten, wird zwar nach wie vor geschätzt, findet aber kaum noch Eingang in wissenschaftliche Zeitschriften. WERKSTATTGESCHICHTE lädt ein, mit einem eigenen Essay konventionelle Perspektiven zu durchbrechen und neue Formen der Darstellung zu erproben.“
Der Ausgang war allerdings ungewiss. Am Ende waren wir selbst überrascht von der positiven Resonanz auf unseren Essaywettbewerb. Auf dem Historikertag in Mainz 2012 konnten wir den ausgezeichneten Essay präsentieren. Einstimmig hatte sich die Jury – Franziska Augstein, Axel Doßmann, Annett Gröschner, Dietlind Hüchtker, Monica Juneja, Silke Törpsch und Michael Wildt – für den Beitrag von Achim Landwehr entschieden: „Die Kunst, sich nicht allzu sicher zu sein: Möglichkeiten kritischer Geschichtsschreibung“. Sein Essay ist ein Plädoyer für eine kritische Geschichtsschreibung, der es um eine „Entselbstverständlichung“ von Geschichte geht. In seinem bemerkenswert unprätentiösen Text führt Landwehr vielschichtig vor, wie Nicht-Eindeutigkeit und Verunsicherung im Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart das Schreiben kritischer Geschichte möglich machen kann.
Die Jury konnte nur einen Essay auszeichnen, doch es gab noch viele weitere gelungene Essays mit originellen Antworten und Impulsen. Wir haben uns daher entschieden, auch einige der anderen Essays zu präsentieren. Die Texte werden weitgehend unverändert in der eingereichten Fassung veröffentlicht.
Jürgen Martschukat nimmt sich in seinem Essay „Eine kritische Geschichte der Gegenwart“ das Schreiben von Geschichte als Akt der Kritik vor. Dabei lässt er die Gedanken und Anregungen Foucaults noch einmal Revue passieren, um diese neu zu hinterfragen. Auch wenn der Name dieses Denkers heute in kaum einer Einleitung fehlt, so Martschukat, sei das kritische Potenzial keineswegs ausgeschöpft. In den vielen jüngeren Arbeiten, die auf ihn Bezug nehmen, gehe die eigentliche Schärfe und Konsequenz Foucaults verloren, und das heißt auch: seine kritischen Implikationen für die Gegenwart und die Frage nach Alternativen jenseits des scheinbar unabwendbaren Gangs der Dinge.
Teresa Gärtner macht auf einen Schwachpunkt in der Geschichtspraxis aufmerksam: Zwar sind wir geschult im kritischen Umgang von Texten, doch der Umfang mit bildlichen Quellen und Darstellungen werde nach wie vor vernachlässigt. In ihrem Essay „Lesen lernen“ widmet sie sich der Darstellung von historischen Prozessen in Land- und Weltkarten. Sie setzt sich mit der Konstruktion von Karten auseinander und fordert dazu auf, nicht nur Texte kritisch zu lesen, sondern auch die Konstruktionen historischer Karten bewusster wahrzunehmen.
Aleksandra Pawliczek fragt in ihrem Essay „Geschichtsforschung und Geschichtsschreibung zwischen Digital Humanities und Archivquellen“, wie sich die Quellenlage im digitalen Zeitalter verändert und was das für unsere methodischen Ansätze bedeutet. Die wachsende Masse digitaler Daten wird künftiges historisches Arbeiten verändern, zugleich eröffnen riesige Datenspeicher und die steigende Zahl digital analysierbarer Quellen ganz neue Möglichkeiten der Auswertung umfangreicher Materialien. Doch auch im Zeitalter der Digital Humanities, so die Autorin, müssten Quellen weiterhin entziffert, gelesen und in einen kritischen Zusammenhang gestellt werden. Um nicht nur sinnlose „Datengräber“ zu schaffen, sei jedoch eine Verständigung zwischen Historikern, Archivaren und Informatikern über gemeinsame Standards und Kriterien unabdingbar.
Am Ende des Thementeils steigt Annette Vowinckel einen Moment lang aus dem Alltag eines Wissenschaftsbetriebs aus, der zwischen Drittmitteleinwerbung und Forschungsanträgen gelegentlich aus dem Blick verliert, was wir eigentlich erforschen wollen und für wichtig halten. In ihrem Essay „Kritik der Forschungslücke“ hinterfragt sie das Antragswesen, das nicht mehr die gesellschaftliche Relevanz der Forschung in den Mittelpunkt stellt, sondern nur noch nach Forschungslücken fragt.
In der Rubrik Werkstatt befasst sich Hans-Heinrich Bass mit einem Kapitel der jüngeren Protestgeschichte. In seinem Beitrag „Verkehrspolitik unter dem Druck der Straße“ geht er den verkehrspolitischen Diskussionen Anfang der 1970er Jahre nach. Damals gab es in vielen deutschen Städten massive Proteste gegen Fahrpreiserhöhungen. Nicht nur unterschiedliche Vorstellungen von Stadtentwicklung, Verkehrspolitik und Partizipation trafen hierbei aufeinander, auch sehr unterschiedliche politische Hintergründe der Akteure spielten bei diesen Auseinandersetzungen eine entscheidende Rolle.
Nach dem Ende des „Dritten Reichs“ war die Umbenennung von Straßen, die Namen bekannter Nazigrößen trugen, unumstritten. Keinen Konsens gab es jedoch bei der Frage, welche Personen als Wegbereiter des Faschismus bewertet und ebenfalls aus dem Stadtbild entfernt werden sollten. Felix Schürmann folgt den Spuren des Kolonialismus im städtischen Raum und zeichnet die kontroversen Diskussionen um Straßenumbenennungen in der Nachkriegszeit am Beispiel der Stadt Frankfurt am Main nach.
Im Debattenbeitrag fragen Klaus Graf und Mareike König, inwiefern Weblogs die Wissenschaftskommunikation verändern und erweitern können. Sie geben zunächst einen Überblick über die etablierteren Blogs im Bereich der Geschichtswissenschaft, stellen aber ebenso weniger bekannte Beispiele vor, die sich bestimmten Themen und Fragestellungen widmen. Schließlich wird diskutiert, wo die möglichen Potenziale und Grenzen dieses digitalen Austausches für die Geschichtswissenschaft liegen.
Für die Filmkritik hat Mohammad Sarhangi sich den sowohl inhaltlich als auch filmisch höchst bemerkenswerten, jedoch in der Forschung kaum beachteten Holocaustfilm avant la lettre Die Passagierin aus dem Jahr 1963 angeschaut. Da Regisseur Andrzej Munk während der Dreharbeiten 1961 zu Tode kam, blieb der Film unvollendet. Seine Mitarbeiter entschlossen sich, dem Film eigenmächtig nichts hinzuzusetzen, was womöglich nicht Munks Intention entsprochen hätte, und montierten lediglich aus Fotos vom Set sporadisch die geplante Rahmenhandlung. Schon dadurch wird der Illusionscharakter für den Zuschauer gebrochen. Dies nun passt ausgezeichnet zu Munks Film und dessen Romanvorlage, denn hier wird die Erinnerung einer ehemaligen SS-Aufseherin an ihre Tätigkeit in Auschwitz in drei sehr verschiedenen Versionen erzählt. Sarhangi liest den Film als Ausdruck und Reflektion eines inneren gerichtsförmigen Prozesses, der in einer ehemaligen Täterin in Gang kommt.
Die Expokritik von Birgit Hopfener stellt mit dem „Potosí-Prinzip“ eine Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt vor. Im 17. Jahrhundert führte die Ausbeutung der Silbervorkommen in der lateinamerikanischen Stadt Potosí durch die spanische Kolonialmacht zu einem enormen Akkumulationsschub. In diesem Zusammenhang von Kunst, Macht und Geld werden auch die Kunstwerke dieser Ausstellung präsentiert, die zugleich eine Verbindung zwischen den kolonialistischen Ausbeutungsverhältnissen und der heutigen globalisierte Welt herstellt. Hopfener diskutiert in ihrem Beitrag, inwiefern diese historisch-reflektierte Bilderschau gelingt.

Die Redaktion

 

DOWNLOAD