Editorial: Nr. 55 | feindschaft

 

Albrecht Dürer, Kain erschlägt Abel, Holzschnitt 1511; Valentin Scherer (Hrsg.), Dürer. Des Meisters Gemälde, Kupferstiche und Holzschnitte, Stuttgart, 1926, S. 265.

Feindschaft als soziale Beziehung

Zu Freundschaft gibt es zahllose Untersuchungen. Typisierungen, Diskurse und Praktiken sind für viele Gesellschaften und Kulturen über alle Epochen der Geschichte untersucht. Ganz anders verhält es sich mit der sozialen Beziehung der Feindschaft. Ein Blick auf die eigene Alltagserfahrung macht klar, dass Feindschaft in beruflichen und privaten Beziehungen und Zusammenhängen präsent ist, dass Nachbarschaft und Verwandtschaft als Feindschaftsbeziehung angelegt und ausgelebt werden können, dass Freundschaft nicht davor gefeit ist, in Feindschaft umzuschlagen und Versöhnung – als ein Ritual der Transformation von Feindschaft – oft keine einfache Sache ist. Hingegen haben sich die Humanwissenschaften Präsenz und Bedeutung von Feindschaft als sozialer Beziehung im Alltag als Untersuchungs- und Reflexionsgegenstand bislang so gut wie ganz entgehen lassen. Die Rede ist hier nicht von den Kategorien »Feind« und »Feindschaft« auf einer globalen oder gesellschaftlichen Makroebene, auch nicht von der auf Großgruppen bezogenen sozialpsychologischen Kategorie »Feindbild«.
Feindschaft als soziale Beziehung zum Gegenstand geschichtswissenschaftlicher Analysen zu machen, erweitert die historischen Untersuchungen zu sozialen Nahbeziehungen wie Freundschaft, Nachbarschaft, Verwandtschaft, Haushalt. Ideen (mehr sind es selten) aus der Sozialanthropologie, der Volkskunde, der Soziologie und Sozialpsychologie, der historischen Rechtswissenschaft, der Literaturwissenschaft und anderen Disziplinen können aufgegriffen werden, um das Phänomen Feindschaft historisch genauer in den Blick zu nehmen. Feindschaftsdiskurse und -praktiken, Rituale des Initiierens, des Austragens und des Beendens (oder Unterbrechens) von Feindschaftsbeziehungen, das Verhältnis von Norm und Normverletzung, die gesellschaftliche Billigung oder Ächtung bestimmter Feindschaftspraktiken sollen geschichtswissenschaftlich so wahrgenommen werden, dass Gender-, Schicht-, Gesellschafts-, Kultur- und Epochenspezifisches herausgearbeitet wird.
Getestet wird die Hypothese, dass Feindschaft angemessen nicht als dyadische Beziehung, sondern mindestens als Triade zu erfassen ist. In allen Beiträgen zeigt es sich, dass Dritte entweder als Publikum und als ZeugInnen oder doch als Beteiligte im weiteren Sinn im Spiel sind und von den Akteurinnen und Akteuren auch als solche vorausgesetzt, ja möglicherweise von vornherein mit einkalkuliert werden: Feindschaft war – und ist – auch als persönliche Nahbeziehung meist nicht geheim, sondern offen und in größeren sozialen Zusammenhängen angesiedelt, beeinflusst von anderen Beziehungen und Akteurinnen und Akteuren und ihrerseits wirksam über das unmittelbare Aktionsfeld der direkt Beteiligten hinaus. Sie fand und findet statt in Feldern, in denen verschiedene Sphären und Strukturen von Öffentlichkeit einbezogen sind und Netzwerke aktiviert werden (können). Dies gilt auch für Feindschaft im sozialen Feld der Familie, einem der wichtigsten Bereiche potentieller und ausagierter Feindschaftsbeziehungen, wie es die Beiträge dieses Hefts zur Antike (Martin Leutzsch) und zur Zeitgeschichte (Martin Lücke) zeigen. Speziell ist für das 20. Jahrhundert nur, dass Feindschaft und damit häusliche Gewalt in diesem sozialen Rahmen in einem als »privat« und unantastbar verstandenen Bereich angesiedelt ist. Damit wird sie auch – für Dritte – schwer von außen erkennbar. Und sie wird – gegenüber Dritten – von Beteiligten schwer nach außen hin thematisierbar.
Feindschaft als soziale Beziehung kann komplementär zu Freundschaftsbeziehungen operieren, wie der Beitrag von Sebastian Kühn zeigt. Freundschaft hat das Potenzial, in Feindschaft umzuschlagen; umgekehrt vermag Feindschaft in Freundschaft verwandelt zu werden. Akteure und Akteurinnen haben dabei, wie es besonders dieser Beitrag deutlich macht, beträchtliche Handlungsspielräume. Weite soziale Netzwerke mit Implikationen bis zu den höchsten politischen Ebenen können involviert sein, wenn es anscheinend nur um eine ganz persönliche Nahbeziehung geht.
Damit ergeben sich aus allen drei Beiträgen grundlegende Einsichten in die Rolle von persönlichen Beziehungen für gesellschaftliches und historisches Geschehen bis hin zu den Makroebenen: Feindschaft ist weit mehr als nur ein persönliches Gefühl von Hass oder Abneigung, das in der Psyche einzelner Personen verankert ist. Es geht um Emotionen und um soziale Konstellationen und Konfigurationen, um Handlungen und Handlungslogiken, in persönlichen Nahbereichen und zugleich in weitgefächerten sozialen Netzwerken. Feindschaft ist als ein Modus sozialer Beziehungen zu verstehen und reicht über eine nicht unbedingt folgenreiche Mikroebene hinaus. Sie betrifft alle Arten von sozialen Feldern – unter anderem die Familie, die Politik, die Wissenschaft. Sie ist in der Regel mit Öffentlichkeit verbunden. Sie involviert alle Arten von Akteurinnen und Akteuren. Sie ist selbst ein Handlungsfeld, in dem Handlungslogiken für die Akteurinnen und Akteure von Bedeutung sind. Die hier vorgelegten Studien lassen sich denn auch als ein Beitrag zu dem größeren Projekt verstehen, Gesellschaftsgeschichte von persönlichen sozialen Beziehungen aus zu schreiben.
Um möglichst viele Facetten dieses bisher wenig beachteten Themas anzusprechen, werden drei Analysen aus verschiedenen Epochen und Kulturen und mit unterschiedlichen Schwerpunkten präsentiert.
Ein Beitrag (Martin Leutzsch) beschäftigt sich mit Feindschaft im antiken Israel und untersucht Feindschaftsdiskurse und -praktiken mit einem generell anwendbaren Analyseraster. Ausgehend davon, dass Feindschaft eine grundlegende, wenngleich oft unterschätzte soziale Nahbeziehung in antiken Gesellschaften war, fragt der Beitrag, wie sie methodisch und theoretisch differenziert historisch erfasst werden kann. Für das antike Israel wird gezeigt, dass in Erzählungen, rechtlichen Normen, Lebenslehren, Gebeten und prophetischen Texten jeweils unterschiedliche Facetten von Feindschaft thematisiert werden. Die Quellen (im wesentlichen Texte der Hebräischen Bibel) werden unter Einbeziehung von Konzepten der Spiel-, Kommunikations- und Organisationstheorie, Soziologie und Ethnologie analysiert, der Befund in einer umfassenderen Phänomenologie der Feindschaft verortet. Dabei wird deutlich: Feindschaft ist nicht identisch mit Konflikt. Feindschaft unterscheidet sich von Freundschaft darin, dass sie auf eine reale oder ideelle dritte Größe bezogen ist und Reziprozität der Beziehung nicht konstitutiv voraussetzt. Feindschaft tangiert die sozialen Netzwerke der Beteiligten und Betroffenen. In diesem Beitrag werden Modelle erprobt, und es wird der Versuch unternommen, an einem antiken Beispiel Theorieelemente zu entwickeln, die in andere Epochen und Kontexte übertragbar und von genereller Bedeutung sind.
Der zweite Beitrag (Sebastian Kühn) widmet sich Feindschaftsbeziehungen in Gelehrtenkulturen der Frühen Neuzeit. Gegen harmonisierende Vorstellungen von Gesellschaft plädiert der Beitrag dafür, Feindschaften als Modus sozialer Beziehungen aufzufassen, in dem Gesellschaft geformt und konstituiert wird. Am Beispiel der Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit wird Feindschaft als personale Nahbeziehung untersucht, eine langfristig angelegte triadische Beziehung, die in engem Zusammenhang mit Freundschaft konzipiert und praktiziert worden ist. Der Feind war keine abstrakte Größe, kein Fremder, sondern befand sich immer im Bereich sozialer Nähe. Eine Feindschaftsbeziehung im Nahbereich bewusst zu gestalten, gehörte somit zu den sozialen Grundtechniken. Mit zwei Fallbeispielen werden die Handlungsspielräume dieser Feindschaftsbeziehungen in Gelehrtenkulturen der Zeit um 1700 ausgelotet. Dabei interessieren die Handlungsmuster, die spezifischen Rituale und Gesten, allerdings auch die epistemologischen und sozialen Konsequenzen von Feindschaften in der Gelehrtenkultur. Das erste Beispiel illustriert eine weit verbreitete Eskalationslogik; das zweite hingegen führt die Möglichkeit der Pazifizierung vor.
Martin Lücke beschäftigt sich in seinem Beitrag mit Feindschaft im 20. Jahrhundert. Hier wird betrachtet, welche Rolle Feindschaft bei der Selbstpositionierung von männlichen Fürsorgezöglingen im Spannungsfeld von Familie und staatlicher Fürsorge gespielt hat. Der soziale Raum der Familie wird oft als ein Schutzraum frei von Feindschaft entworfen, der sich durch Attribute wie Liebe, Nähe und besondere Fürsorge auszeichnet. Martin Lücke zeigt, wie männliche Fürsorgezöglinge in den Jahren der Weimarer Republik Familie jedoch als einen besonderen Austragungsort von feindschaftlichen Praktiken darstellen. Vor dem Hintergrund der institutionellen Rahmenbedingungen staatlicher Fürsorge in den 1920er Jahren interessiert, wie Zöglinge der Berliner Landeserziehungsanstalt Struveshof in narrativen biografischen Texten ihre eigene Lebenserzählung durch Schilderungen familiärer Feindschaft anreichern.
Geoff Eley analysiert in seinem Debattenbeitrag neuere Forschungen zur Geschichte des deutschen Kolonialismus. Während frühere Arbeiten von der Bedeutungslosigkeit und der Randständigkeit der Kolonien ausgingen, sind die neueren Forschungen von der Grundannahme getragen, dass der Kolonialismus weitreichende Auswirkungen auf die deutsche Politik, Gesellschaft und Kultur hatte. Die Arbeiten von George Steinmetz, Frank Oliver Sobich und Sebastian Conrad zur Spezifik der deutschen kolonialen Herrschaft, zur Wirkung einer besonderen kolonialen Krise (des Genozids an den Völkern der Ovaherero und Nama im Jahr 1904) auf den Reichstagswahlkampf 1906/07 und zu den sich verändernden Vorstellungen von Nation im wilhelminischen Deutschland unter dem Einfluss der Globalisierung definieren – so Eley – den Standard für künftige Untersuchungen in diesem Forschungsfeld.
Jürgen G. Nagel hat die Ausstellung »James Cook und die Entdeckung der Südsee« in der Kunst- und Ausstellungshalle Bonn besucht. Nagel sieht hier eine einzigartige Zusammenstellung der ethnologischen Objekte, die, in Verbindung mit dem überzeugenden Handbuchkatalog, die Ausstellung zu einem »Gesamtkunstwerk« mache.
In einer weiteren Expokritik bespricht Claudia Ried das Jüdische Museum in München. Die besondere Herausforderung für die Konzeption des Museums bestand darin, dass aufgrund der Verfolgung und Vernichtung der Jüdinnen und Juden der Stadt nur wenige dingliche Objekte zur Verfügung standen. Ried beschreibt die Entstehung des Museums im Kontext der Stadtgeschichte, die Ausstellungsarchitektur sowie die Präsentation der Dauerausstellung, und sie kommt zu dem Schluss, dass durch die innovativen Ansätze der auditiven Inszenierung und die vom Besucher geforderte Interaktivität neue und ungewöhnliche Wege der Wissensvermittlung beschritten worden seien.
Für die Filmkritik hat sich Monika Bernold den österreichischen Spielfilm Eva von 1935 mit Magda Scheider, Hans Söhnker, Heinz Rühmann und Hans Moser noch einmal genau angesehen. Wirtschaftskrise und Klassenkonflikt werden darin abgewendet, indem die Fabrikarbeiterin Eva am Ende durch die Verlobung mit dem »Richtigen« vom Objekt allgemeinen männlichen Begehrens zur künftigen Mutter der Fabrikfamilie aufsteigt. Monika Bernold zeigt, wie die historisch aufschlussreichen Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit in diesem Schwarz-Weiß-Film mit einem höchst bedeutungsvollen Einsatz der Nicht-Farbe Weiß verbunden sind.

Gabriele Jancke und die Redaktion

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